Etwa um 1796, noch unter dem relativ frischen Eindruck der französischen Revolution, trifft Fürst Ludwig Friedrich II. von Schwarzburg-Rudolstadt folgende bemerkenswerte Äußerung: "Mit dem besten Willen von der Welt trat ich die Regierung an, welche mir nicht gefiel, denn sie war ja ganz aristokratisch, denn moralisch kann man wohl heutzutage selten eine nennen. Immer meinem Grundsatz getreu, daß der Mensch aus eigner Überzeugung, aus Freiheit, bloß dem Guten selbst wegen, handeln müsse, ließ ich so ruhig alles seinen Gang, guckte vom Throne mit zu [...]. Noch immer ist mir der Gedanke, ich bin Fürst, unausstehlich [...]. Es ist Folge meiner Erziehung - und welch trauriges Gefühl, Du bists bloß durch Geburt und nicht durch Verdienst." [1] Es ist wohl keine größere Distanz denkbar zwischen diesem Rudolstädter Regenten und dem dynastischen Selbstverständnis seiner zahlreichen Vorgänger, die über Jahrhunderte bestrebt waren, die hohe Stellung der Familie und damit ihre Landesherrschaft auf vielfältige Weise zu sichern und auszubauen. Vinzenz Czech nun unternimmt in seiner eindrucksvollen Studie zum Selbstverständnis thüringisch-sächsischer Reichsgrafen in der Frühen Neuzeit den Versuch, genau diesen dynastischen Herrschaftsstrukturen nachzuspüren, die über Jahrhunderte das komplexe Kleinstaatengefüge dieser Region zusammenhielten und die nicht zuletzt dafür verantwortlich waren, dass sich hier eine einzigartige europäische Kulturlandschaft entwickeln konnte.
Es sind mehrere Strategien, die der Autor am Beispiel der vier Grafenfamilien Schwarzburg, Reuß, Schönburg und Stolberg für die Erhaltung familiären Selbstverständnisses geltend macht. Zunächst gehört dazu der Vergangenheitsbezug, der sich in der Erforschung der eigenen Familiengeschichte, den Genealogien und in anderen sichtbaren Zeichen der dynastischen Herrschaft wie den Leichenbegängnissen veranschaulicht. In weiteren Abschnitten richtet sich das Augenmerk auf die Heiratspolitik, die Rangerhöhungen und die damit verbundenen Repräsentationserfordernisse sowie schließlich auf Wahrnehmung und Rezeption aller dieser Strukturen. Die Arbeit zeichnet sich durch eine intensive Quellenauswertung aus. Das so gewonnene reiche Material erlaubt für alle vier Dynastien bemerkenswerte komparatistische Analysen, die ebenso stringent wie anschaulich aufbereitet sind.
So wird gezeigt, dass im Hause Schwarzburg zwischen 1650 und 1800 nur etwa 37 Prozent der Töchter überhaupt verheiratet wurden, da die Kosten für die Aussteuer und die Feierlichkeiten die eigenen finanziellen Ressourcen überstieg (210). Hingegen waren die Schwarzburger darauf bedacht, die eigenen Söhne mit Ehefrauen zu vermählen, die aus höherrangigen, wenn möglich altfürstlichen Familien wie den ernestinischen Wettinern oder den Welfen stammten, um damit langfristig den Status der schwarzburgischen Dynastie im Sinne einer möglichen Erhebung in den Fürstenstand zu erhöhen, was um 1700 dann auch tatsächlich eintrat. Die Grafenfamilien Stolberg und Schönburg waren im Gegensatz hierzu darauf bedacht, ihren Status als altes reichsgräfliches Haus abzusichern und suchten für ihre Nachkommen nach Allianzen im Bereich von Familien des eigenen Standes. Gerade die Schönburger waren auf Grund von Landesteilungen und einer nur schmalen finanziellen Basis sogar gefährdet, durch Heiraten mit Familien aus dem niederen Adel ihren Status als reichsunmittelbare Grafenfamilie gegenüber ihren benachbarten Lehnsherren, den sächsischen Kurfürsten in Dresden, zu schmälern.
Besonders die zeremoniellen Strukturen waren darauf ausgelegt, den eigenen dynastischen Status abzusichern. So informierte der reußische Hofmeister von Hirschfeld im Februar 1738 die schwarzburgische Regierung in Rudolstadt von dem Wunsche seines Herrn, dem Fürsten Friedrich Anton zur Erneuerung der seit Jahrhunderten bestehenden Freundschaft zwischen beiden Geschlechtern seine Aufwartung machen zu wollen. Im Vertrauen bat er um Mitteilung, wie es in Rudolstadt mit dem Zeremoniell bestellt sei. Da er gehört habe, die fürstliche Durchlaucht hätten vor einiger Zeit einem Grafen von Stolberg in der Residenz die Hand gegeben und da auch sein eigener Herr ein Reichsstand wäre, zweifele er nicht, dass Fürst Friedrich Anton ihm diese Ehre gewähre (265). Aber die Sache war weitaus komplizierter als der Reuße es sich gedacht hatte. Auf schwarzburgischer Seite wurde nämlich zunächst ein hektischer und letztlich ergebnisloser Briefwechsel mit der anderen Linie des Hauses in Sondershausen über den Punkt geführt, wie sich bei dieser zeremoniellen Frage der Begrüßung per Handschlag zu verhalten sei. So anachronistisch dieses Problem uns heute erscheint, so sehr ist zu bedenken, dass sich das komplexe Gefüge dynastischer Herrschaft eben nur über eine genaue Austarierung und Beachtung dieser differenzierten Machtverhältnisse regeln ließ.
Otto Brunner hat den Übergang des Mittelalters zur Neuzeit mit der Ablösung des alten "Personenverbandsstaates" durch räumliche Institutionen, durch den "Anstaltsstaat" beschrieben. [2] Es wäre für die Untersuchung von Czech zu fragen, inwieweit solche topologischen Aspekte bei dem dynastischen Selbstverständnis mit einzubeziehen sind. Hier berührt die Arbeit knapp einige wichtige Punkte: den Ausbau des Schlosses inklusive einiger Repräsentationsräume, die Errichtung der für die Hofhaltung notwendigen Nebengebäude (Marstall, Reitbahn, Zeughaus) oder die Einbeziehung des städtischen Umfeldes durch den Bau von Regierungsgebäuden (Kanzlei, Rentkammer) (304). Zu fragen wäre als entscheidendes Prinzip von fürstlichem Selbstverständnis jedoch auch, wie überhaupt die Verbindung aller dieser institutionellen, auf die Fläche bezogenen Institutionen mit dem vertikalen "Personenverbandsstaat" zu Stande kommt, mit dessen Heiratsverhalten, seiner genealogischen Traditionspflege und seinen zeremoniellen Ritualen. Wenn es erst die Dynastie durch das Prinzip der aneinander gereihten Generationen vermag, diese Flächenherrschaft über die Jahrhunderte zu kontinuieren, dann ist es von entscheidender Bedeutung, wie sie es vermochte, ein "Körpergebiet" (Helmuth Plessner) aufzubauen, das diese personale Herrschaft in das Territorium erweiterte und - zumindest innerhalb dieses räumlich eng begrenzten Rahmens - funktionieren ließ.
Die vorliegende Arbeit geht auf eine historische Dissertation an der Universität Potsdam zurück. Die durch intensives Quellenstudium geleistete Grundlagenforschung kann in ihrer Bedeutung kaum hoch genug eingeschätzt werden. Die hier gewonnenen Ergebnisse liefern uns ein prägnantes Bild von den Strategien dieser Familien, ihre Macht auszubauen oder zumindest zu erhalten. Vermutlich hat diese Fixierung auf die schriftlichen Primärquellen aber auch dazu geführt, dass Forschungsergebnisse der Nachbardisziplinen eher vernachlässigt worden sind, vor allem solche aus der Kunstgeschichte. Viele der hier durchgeführten Einzelforschungen werden zwar merkwürdiger Weise ausführlich bibliografiert, aber nicht im Rahmen der eigenen Untersuchung diskutiert. So wird das Wappensystem an der Herrschaftsloge der Rudolstädter Stadtkirche als "Stammbaum" bezeichnet, obwohl es sich um eine Ahnentafel handelt, was zur einer grundlegend anderen genealogische Aussage geführt hätte.
Schließlich wäre interessant zu erfahren, wie sich einzelne Familienmitglieder gegenüber der Gesamtdynastie verhalten, ob sie sich ihr gegenüber wenigstens graduell autonom zeigen. Helga Meise hat in ihrer Arbeit "Das archivierte Ich" für den Darmstädter Hof am Beispiel der Auswertung von Schreibkalendern untersucht, wie hier allmählich eine "Verschriftlichung" der zeremoniellen Ordnung stattfindet. [3] In der Archivierung der verschiedenen textlichen Medien beginne das tatsächlich gelebte Zeremoniell vergleichsweise weniger wichtig zu werden. Dieser Vorgang führe, so Meise, zu einer Zunahme persönlicher Gefühlsäußerungen in den Texten und damit zu einer Hypostasierung des Ichs. Diese Individualisierung trägt letztlich zu einer Auflösung des Zeremoniells bei, was im Rudolstadt benachbarten Weimarer Staat um die Mitte des 18. Jahrhunderts bei Herzogin Anna Amalia bekanntlich zu einer regelrechten Ablehnung des höfischen Dekorums führt. Aber auch für Rudolstadt selbst könnte etwa Gräfin Ämilie Juliane von Schwarzburg, geborene Gräfin von Barby († 1706), mit ihren zahlreichen, ihr persönliches Ich paraphrasierenden Äußerungen sowohl in ihrer umfangreichen Korrespondenz wie auch in den von ihr geführten Schreibkalendern bereits in diese Richtung weisen.
Diese Überlegungen verstehen sich weniger als Kritik, sondern als Anregung, weitere Fragen in diese Richtung zu stellen. Die vorgelegte Untersuchung bereichert unser Bild von der dynastischen Herrschaft im Alten Reich durch die beeindruckend gründliche Auslotung der Quellen und den geschickt gewählten typologischen Rahmen ungemein. Die übersichtliche, griffige und gut lesbare Darstellung der komplexen Materie und die Zusammenfassungen in Zwischenergebnissen machen die Studie überdies zu einer interessanten und gut verständlichen Lektüre. Insofern kann schon jetzt ohne Einschränkung gesagt werden, dass es sich bei diesem Buch um einen wichtigen Baustein der Frühneuzeitforschung handelt, der unser Wissen von den politischen Führungsschichten des Alten Reichs eindrucksvoll bereichert.
Anmerkungen:
[1] Horst Fleischer: Ludwig Friedrich II., in: Die Fürsten von Schwarzburg-Rudolstadt 1710-1918, hg. vom Thüringer Landesmuseum Heidecksburg Rudolstadt, Rudolstadt 1998, 96-113, 105f.
[2] Otto Brunner: Neue Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 1956, 185.
[3] Helga Meise: Das archivierte Ich. Schreibkalender und höfische Repräsentation in Hessen-Darmstadt 1624-1790, Darmstadt 2002 (Arbeiten der Hessischen Historischen Kommission 21). Vgl. hierzu die Rezension von Jeroen Duindam, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 12, URL: http://www.sehepunkte.de/2003/12/3016.html
Vinzenz Czech: Legitimation und Repräsentation. Zum Selbstverständnis thüringisch-sächsischer Reichsgrafen in der frühen Neuzeit (= Schriften zur Residenzkultur; Bd. 2), Berlin: Lukas Verlag 2003, 463 S., ISBN 978-3-931836-98-6, EUR 70,00
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