Retrospektiv gesehen kann die Einführung des Buchdrucks als ein Medienbruch begriffen werden. Doch hörte die Handschriftenproduktion nach Gutenbergs Erfindung nicht schlagartig auf, vielmehr wurden im 15. und 16. Jahrhundert auch handschriftlich erstellte Bücher neben gedruckten vertrieben. Beide Arten der schriftlichen Textüberlieferung existierten nebeneinander, konkurrierten miteinander und beeinflussten sich gegenseitig. Dieser Übergangszeit ist unter dem Titel "Die Gleichzeitigkeit von Handschrift und Buchdruck" ein Sammelband gewidmet, der einen Teil der Beiträge der Jahrestagungen des Mediävistischen Arbeitskreises der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel aus den Jahren 1997 und 1998 enthält. Die Aufsätze untersuchen die Thematik aus kunsthistorischer, literaturwissenschaftlicher, medizingeschichtlicher und musikwissenschaftlicher Perspektive.
In einem einführenden Beitrag stellt Wolfgang Augustyn die Beziehungen von Handschriften und Drucken aus kunsthistorischer Sicht dar. Gerade anhand der bildlichen Darstellungen der Ausstattung lässt sich eine wechselseitige Einflussnahme besonders anschaulich nachweisen: War bereits die Produktion der Handschriften in verschiedene Arbeitsgänge aufgeteilt worden, um Kosten zu sparen, übernahmen auch bei den frühen Drucken Rubrikatoren und Illuminatoren die Aufgabe, die Bücher entsprechend auszustatten. Im Ergebnis glichen sich daher Inkunabeln und Handschriften oft in ihrer äußeren Gestaltung. Aber auch Handschriften wurden mit gedruckten Bildern geschmückt, die teilweise so aufgearbeitet wurden, dass sie Miniaturen glichen. Erst am Ende des 15. Jahrhunderts veränderte sich das Bildprogramm der Drucke. So nahm die Zahl der Illustrationen zu und die Titelblätter entwickelten sich. Damit wurde das gedruckte Buch zum "Regelfall" (46), während die Texthandschrift verschwand, jedoch als Handschrift mit Illuminationen weiterhin eine "repräsentative Sonderform des Buchs" (47) blieb.
Peter Ochsenbein belegt am Beispiel der Gebetbuchliteratur das wechselseitige Verhältnis von Handschrift und Druck. Repräsentative Stundenbuch- und Privatgebetbuchhandschriften hatten in gedruckter Form erst Ende des 15. Jahrhunderts in Deutschland Erfolg. Da die Drucke jedoch teuer waren, entstanden vor allem in Frauenklöstern und Laienbrüderkonventen weiterhin handgeschriebene Exemplare für den persönlichen Gebrauch. Diese benutzten gedruckte Gebete als Vorlagen. Aber auch die für repräsentative Zwecke angefertigten Handschriften griffen auf Drucke zurück, wobei diese sich wie die Privatgebetbücher durch "Singularität in Textauswahl und Anordnung" (109) auszeichneten.
Auch der Beitrag von Ursula Rautenberg weist ebenfalls auf Mischformen von Handschrift und Buchdruck hin und bezieht sich dabei auf einen Druck, der als Handschrift umgestaltet wurde, sowie auf eine Handschrift, die bis in ihre äußere Gestaltung hinein von ihrer Druckvorlage abhängig ist.
Das erste Beispiel ist ein Missale für St. Kolumba von 1514. Das Missale selbst bedurfte vom Druck her keiner weiteren Bearbeitung, denn es enthielt sowohl die Paginierung als auch Holzschnitte, und wichtige Stellen waren durch Rotdruck hervorgehoben. Dennoch wurde das Missale manuell bearbeitet, der Druck wurde damit, so Rautenberg, einer "Miniaturisierung" (171) unterzogen. Jedoch ist die Schrift der eingelegten handschriftlichen Lage dem Druckbild angeglichen und nutzt damit nicht den Raum für eine eigenständige Gestaltung der Handschrift. Das zweite Beispiel bezieht sich auf eine von Helias Mertz in Auftrag gegebene Handschrift für das Kölner Makkabäerkloster, die 1525 entstand und auf gedruckte Vorlagen zurückgreift. Auffällig an der Makkabäer-Handschrift ist, dass bis in das Schriftbild hinein die Druckvorlagen nachgestaltet sind.
Rautenberg betont in ihrer Interpretation die Unterschiede zwischen dem Missale als liturgischem Buch und dem Makkabäerbuch als hagiografischer Handschrift. So sei das Missale aus einem "Zwiespalt zwischen Druckökonomie und buchkünstlerisch konservativer Vorstellung" (184) entstanden. Davon hebe sich das Makkabäerbuch ab, denn eine bibliophile Ausstattung im Humanistenkreis sei eher ungewöhnlich. Fraglich an dieser Lesart ist jedoch, ob nicht der repräsentative Charakter des Missale und des Makkabäerbuches - beide sind "von einem privaten Auftraggeber für den öffentlichen Kultraum der Kirche bestimmt" (183) - die aufwändige Gestaltung erklären.
Wie stark die Verbreitung im Druck von den technischen Voraussetzungen abhängig ist, zeigt Martin Staehelin, der in seinem Beitrag auf die mehrstimmig-figurale Musiküberlieferung eingeht. So sahen sich die Drucker vor die Schwierigkeit gestellt, neben den Notensystemen auch noch weitere Auszeichnungen und den Text berücksichtigen zu müssen. Gedruckt wurden vor allem erfolgreichere neuere Komponisten, während ältere Stücke weiterhin meist nur als Handschriften überliefert sind. Damit grenzt der Autor Musikdruck und Musikhandschrift voneinander ab: Während der Erstere mehr für die Musizierpraxis hergestellt wurde, bewahrten die Musikhandschriften "ein entschieden breiteres Spektrum an Typen und Funktionen" (239). So finden sich hier Prachtchorhandschriften, Manuskripte für den persönlichen Gebrauch und so genannte Archivierhandschriften, in denen Musikstücke skizzenartig aufgezeichnet wurden. Im Gegensatz zu anderen Handschriften spielte die Musikhandschrift längere Zeit noch eine wichtige Rolle.
Auf den Zusammenhang von mündlicher Rezeption und Überlieferung in der Handschrift oder als Druck weist der Aufsatz von Hans Eideneier am Beispiel der volkssprachlichen griechischen Literatur des Mittelalters hin. Anhand der Pausenmarkierung von rhythmischen Phrasen im Prosaerzählstil Venezianer Volksdrucke weist er nach, dass diese bis ins 19. Jahrhundert hinein für einen mündlichen Vortrag gedacht waren. Drucke und auch Handschriften, die teilweise wiederum auf den Drucken basierten, waren damit als Stütze für die mündliche Überlieferung gedacht. Der Niedergang dieser Literatur hat nach Eideneier aber weniger mit der Verschriftlichung in handschriftlicher oder gedruckter Form zu tun, vielmehr endet die mündliche Überlieferung "unabhängig von der Textgeschichte" (279) im 19. Jahrhundert.
Weitere Beiträge des Bandes untersuchen das Wechselspiel von Handschrift und Buchdruck an Beispielen. So stellt Felix Heinzer ausführlich die handschriftlichen und gedruckten Quellen des Kollektaneenbandes (Cod. Donaueschingen 704) aus der Bibliothek des Schlosses Herrenzimmern dar, der auf den Grafen Wilhelm Werner von Zimmern zurückgeht. Ortrun Riha vergleicht zum einen die handschriftlich überlieferten Pesttraktate mit gedruckten Pesttexten und zum anderen mittelalterliche Sammelhandschriften von "Büchern von Mensch und Tier, Haus und Garten" (213) mit Drucken von Hausbüchern. Holger Flachmann weist nach, wie Handschrift und Buchdruck bei Luther funktional differenziert und dabei "im Dienste des gemeingültigen christlichen Menschenbildes" (139) ihren Einsatz fanden. Aus kunsthistorischer Sicht beschäftigt sich Ulrike Hinrichs-Schreiber noch mit dem Bildprogramm der Holzschnitte in Stephan Fridolins "Schatzbehalter" und deutet auf Verbindungen zwischen diesem Erbauungsbuch und Werken Albrecht Dürers.
Bedauerlicherweise fehlen einige Beiträge der Tagung wie beispielsweise der von Stephan Füssel ("Zwischen Euphorie und Zensur-Androhung: Die Rezeption des Buchdrucks im 15. Jahrhundert") oder der von Nigel F. Palmers ("Die Kupferstiche, Holzschnitte, Handschriften, Blockbücher und Inkunabeln der 'Ars moriendi'"). Sie hätten den Aufsatzband, der mit einem ausführlichen Register ausgestattet ist, gut ergänzt und abgerundet.
Gerd Dicke / Klaus Grubmüller (Hgg.): Die Gleichzeitigkeit von Handschrift und Buchdruck (= Wolfenbütteler Mittelalter-Studien; Bd. 16), Wiesbaden: Harrassowitz 2003, 299 S., ISBN 978-3-447-04767-8, EUR 59,00
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