Die Sonderausstellung zu Eugène Delacroix (1798-1863) vereinigte 223 Exponate aus dem Besitz von knapp 70 öffentlichen wie privaten Leihgebern aus Europa und den USA. Sie ermöglichte, wie es in allen Ankündigungen hieß, fünfzehn Jahre nach der letzten großen Übersichtsschau in Deutschland (zuerst im Kunsthaus Zürich, dann in Frankfurt am Main, 1987/88) einen neuen, einen ebenso differenzierten wie vertieften Blick auf eine der sicher komplexesten und faszinierendsten Künstlerpersönlichkeiten des 19. Jahrhunderts. Das Unternehmen wurde begleitet von einem opulenten Ausstellungskatalog.
Freilich, so mancher Besucher wird der Karlsruher Ausstellung den heutzutage anscheinend unerlässlichen Event-Charakter abgesprochen haben. Fehlten doch - wie aus verleihtechnischen Gründen nicht anders zu erwarten - die "Highlights", die Delacroix im "Musée imaginaire" topisch verankern, die monumentalen Historienbilder und Allegorien im Louvre, von der "Dantebarke" (1822) über das "Massaker von Chios" (1824), den "Tod des Sardanapal" (1827) bis zur "Freiheit auf den Barrikaden" (1830) und den "Frauen von Algier" (1834). Stattdessen hatte man sich mit kleinformatigen, gelegentlich wenig bekannten Gemälden und mit einer Vielzahl von Aquarellen, Zeichnungen, Grafiken "zufrieden zu geben". Die gleiche stoffliche Einschränkung gilt für den Katalog. Will man also über die so genannten Chef-d'œuvres mehr erfahren, wird man nach wie vor etwa auf Rautmanns Delacroix-Monographie von 1997 zurückgreifen. [1]
Über Standard setzende Traditionen schrieb Delacroix 1834 in seinen Tagebüchern: "Sie schaden ebensoviel wie sie nützen. Sie geben den Kritikern fürchterliche Waffen gegen jegliche Originalität." [2] Gewiss, der Katalog, um jetzt nur noch von diesem zu reden, bewegt sich nicht entlang des gängigen Erwartungshorizonts, was eine an kanonischen Spitzenleistungen orientierte Kunstgeschichte betrifft - aber er münzt dieses vermeintliche "Defizit" um in eine ebenso unerwartete wie stabile Währung, die Originalität festschreibt. Die einzelnen Katalogbeiträge und Beschreibungen der Exponate rücken, gerade weil sie die allseits bekannten Werke ausklammern oder marginalisieren, die erstaunliche Vielseitigkeit Delacroix' erst so recht ins Blickfeld. Dass Delacroix fulminant mit der Farbe umging, das ist bekannt. Und das kommt auch im Katalog gebührend zur Sprache. Beim Durchblättern des Bandes werden daneben aber jene Eindrücke wieder wach, die jeder Ausstellungsbesucher vor den Originalen gewinnen konnte: dass nämlich Delacroix auch zu den virtuosesten und produktivsten Zeichnern der europäischen Kunstgeschichte gehörte. Sein Leben lang studierte und skizzierte er, zunächst in der Akademie, im Louvre, im Jardin des Plantes, sodann in freier Natur und nicht zuletzt auf seiner berühmten Marokko-Reise 1832. Er notierte Eindrücke und Stimmungen, beobachtete Pflanzen, Tiere und anatomische Details. Er verdichtete das Fixierte zu Kompositionsskizzen, in denen sich Expressivität und Bändigung der Formensprache auf unvergessliche Weise die Waage halten. Dass Delacroix als Grafiker Herausragendes leistete - so in den beiden Lithographie-Zyklen zu Goethes "Faust" (1825/27) und zu Shakespeares "Hamlet" (1834-1843) - ist gleichfalls bekannt; und dennoch dürfen die einschlägigen Katalogtexte mit ihren instruktiven Erläuterungen als innovativer Zugewinn gelten. Sicher, wer sich für Delacroix interessiert, weiß um seine Marokko-Reise - und ist doch erstaunt über die Beispiele, die sich im Katalog zu einem Panorama stupender Bildreminiszenzen summieren. Und schließlich noch die Landschaften! Zu Recht merkt der Katalog zu dem Pastell "Garten in Augerville" von 1855 in Privatbesitz an (unter Nr. 155): "Der Blick eines heutigen Betrachters, für den das Spätwerk von Monet oder auch die Kunst des Informel zur ästhetischen Grunderfahrung gehören, wird erkennen, dass eine wichtige Voraussetzung hierzu in diesen Arbeiten von Delacroix liegt."(287) Oder man lasse die Blumenstillleben Revue passieren: Auf der Karlsruher Ausstellung waren sie erstmals in Deutschland zu sehen. Sie vereinigen vehemente malerische Artikulation mit dem Parameter akribisch konzentrierter Wahrnehmung: "Als bewusster Generationsgenosse der damaligen Wissenschaften erkennt Delacroix in der Natur den Prozess vielfältiger Entwicklung, die ihrerseits als Synonym von Geschichte verstanden wird und als Voraussetzung der Erfahrung von Zeit" - so Margret Stuffmann in ihrem Beitrag "Delacroix' Blumen" (84). Diese Qualifikation erinnert, wie ich hinzufügen will, an einen Satz, den der mit Caspar David Friedrich befreundete Carl Gustav Carus, Arzt, Naturforscher, Landschaftsmaler und -theoretiker, 1822 niederschrieb: Demnach eröffne die reine Naturbetrachtung den Blick für eine unendliche Mannigfaltigkeit, bewahre vor Einseitigkeit und fördere umgekehrt auf dem Wege spekulativer Betrachtung das Wissen um gesetzmäßige Beziehungen und um die Einheit unseres geistigen Ichs. Damit wären wir bei der Romantik und ihrer versuchten Synthese eines empirischen Realismus mit einem idealistischen Weltbild angelangt!
Ein anspruchsvoller Katalog wird in vielem, muss jedoch nicht ausschließlich die Gegebenheiten einer Ausstellung spiegeln. Er kann das Präsentationsmaterial diskursiv und kritisch ergänzen. Der Karlsruher Delacroix-Band widersteht der Versuchung, das Œuvre des Künstlers über das Gezeigte hinaus ausbreiten zu wollen. In den einleitenden Essays konzentriert er sich vielmehr auf die Frage nach dem Anteil der Romantik im Schaffen des großen Franzosen. Besonders wichtig sind unter solchem Vorzeichen die Beiträge von Vincent Pomarède ("Eugène Delacroix: 'Das Schöne ist das idealisierte Wirkliche'"), Barthélemy Jobert ("Eugène Delacroix: die Allianz der Künste") sowie Peter Rautmann ("An den Grenzen der Wahrnehmung. Eugène Delacroix' Erkundungen im Feld ästhetischer Erfahrungen").
Besagter Versuch einer epochenspezifischen Klassifikation krankt an dem Versäumnis, französische Romantik im kritischen Vergleich mit der zeitgleichen deutschen oder englischen Romantik in ihren Eigenheiten zu charakterisieren. Dennoch gelingen bemerkenswerte Einsichten, die Delacroix nicht einfach als einen Helden der Romantik begreifen. Im Gegenteil. Sie streichen seine Komplexität heraus, die sich klassisch-klassizistische Muster und rationale Gestaltungskontrolle subsumiert. Eine Tendenz, die, wie insbesondere Pomarède anmerkt, zu einem Bruch Delacroix' mit der Romantik führt (32). Was von den Autoren der Aufsätze in dieser Hinsicht brisant in Gang gesetzt ist, wird freilich - und dies ist meine Hauptkritik - in den Werkerläuterungen zumeist wieder entschärft. Denn die bemühen des Öfteren Klischees, um Delacroix letztlich doch wieder als "stilreinen" Romantiker zu affirmieren.
Trotz dieser Einschränkung wird, so wage ich zu behaupten, der Karlsruher Katalog zur unumgänglichen Lektüre werden für jeden, der sich wissenschaftlich mit Delacroix auseinandersetzt - für jeden aber auch, der ganz einfach nur ein bunteres Bild vom genialen Schaffen dieses Künstlers gewinnen will.
Anmerkungen:
[1] Peter Rautmann, Eugène Delacroix, München 1997.
[2] Zitiert nach: James H. Rubin, Eugène Delacroix. Die Dantebarke. Idealismus und Modernität, Frankfurt am Main 1987, Umschlag.
Staatliche Kunsthalle Karlsruhe (Hg.): Eugène Delacroix. Ausstellungskatalog Kunsthalle Karlsruhe (1.11.2993 - 1.2.2004), Heidelberg: Kehrer 2003, 400 S., 223 Abb., ISBN 978-3-936636-13-0, EUR 64,00
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