Die Diskussion um konfessionell bestimmte Sozialmilieus geht mit der vorliegenden Trierer Dissertation von Tobias Dietrich in eine neue Runde. In der seit 1966 in verschiedenen Anläufen (Lepsius, Loth, Altermatt, Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte) vorgenommenen Theoriebildung spielten zwar Konflikte, die aus dem Zusammenleben der Konfessionen resultierten, eine zentrale Rolle, doch wurde ihre Praxisrelevanz bisher vor allem an aufstrebenden Industriestädten erprobt. Dietrichs Anliegen ist es, die milieu- und mentalitätsgeschichtlichen Theorien zur Entwicklung der Konfessionen im 19. und 20. Jahrhundert mit der Realität auf der Nanoebene überschaubarer dörflicher Einheiten zu konfrontieren.
Sein Untersuchungsgegenstand sind neun Dörfer, je drei aus der thurgauischen Schweiz, dem Elsass und der preußischen Rheinprovinz (Hunsrück und Westerwald). In allen drei Regionen war Mehrkonfessionalität die Regel, was sich auch in den ausgewählten Dorfgemeinden widerspiegelte, in denen zum Teil über Jahrhunderte bestehende Simultaneen die Konfessionen zu einem Agreement zwangen. Diese "Kontinuität des konfessionellen Zusammenlebens" (394) exemplifiziert Dietrich in mehreren Querschnitten durch die wirtschaftlich und politisch eher am Rand liegenden Gemeinden.
In einem ersten Teil dekonstruiert Dietrich die identitätsstiftende Bedeutung von Konfession. Die Pfarrer erfuhren ihre Ausbildung außerhalb der Dörfer, kamen aber an ihren Wirkungsort als Vertreter der Kirchen und des Staates. Der "Pfarrer im Dorf" (113) war ein Statussymbol. Seine Amtsausübung unterlag allerdings einer genauen Sozialkontrolle. Konfession prägte die Altersstufen, kannte geschlechtsspezifische Ausübung. Doch gegen "Aberglauben" waren die kirchlichen Amtsträger weithin macht- und hilflos. Ihre Möglichkeit der Einwirkung bestand im schulischen Religionsunterricht und in der Vermittlung religiösen Wissens durch Katechismus und Predigt, häufig genug erfolglos.
Der zweite Teil untersucht die dörfliche Kirchenbindung. Bekenntnisstreitigkeiten kamen gelegentlich aus Anlass von Beerdigungen vor. Dietrich kommt zum Ergebnis, dass hoher oder niedriger Gottesdienstbesuch nicht aus großen kirchlichen und politischen Konjunkturen resultiere: "Vielmehr ist die konfessionelle und dörfliche Kultur für die Frequenz verantwortlich" (193). Katholisches modernes Vereinswesen fand auf den Dörfern keinen Boden, protestantische Vereinigungen zur Geldsammlung und Belehrung nur teilweise. Trotz heftiger Bemühungen um Verbreitung konfessioneller Lektüre bevorzugten viele Dorfbewohner unterhaltsame und spannende Periodika und Bücher. An kirchlichen Festtagen konnten sich Konflikte entzünden. Die Sittlichkeit der Bevölkerung wurde nicht nur durch kirchliche Moralvorstellungen, sondern auch durch dörfliche Selbstkontrolle bestimmt.
Konfessionelle Konflikte kann Dietrich in verschiedene Phasen einteilen: Einer irenischen Phase in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts folgte ein Konfessionskampf, den ab etwa 1870 trotz Kulturkampf ein friedliches Miteinander ablöste. Nach den 1880er-Jahren lösten sich die gemeinsamen Nutzungen von Kirchengebäuden auf, und es kam zu einer Parallelität der Konfessionen. Die Konflikte waren in vielen Fällen symbolischer Art (etwa um die Überziehung von Gottesdienstzeiten). Ihre Träger waren neben den Pfarrern vor allem die Kirchenvorsteher als "Bekenntnisrepräsentanten" (271).
Trotz aller Konflikte, so Dietrich im dritten Teil seiner Untersuchung, war das dörfliche Leben von einem Miteinander der Konfessionen geprägt. So wählten werdende Mütter ihre Hebamme nach räumlicher Nähe, gutem Leumund, fachlicher Kompetenz und erst an vierter Stelle nach Konfessionszugehörigkeit aus. Im Dorf übliche Namen erhielten den Vorzug vor Konfessionsnamen. Konfessionelle Schranken wurden vor allem durch die Wahl der Taufpaten aufrecht erhalten. Die Zahl der Mischehen stieg aber das 19. Jahrhundert hindurch permanent an. In Mischehen konnten die Partner wohl im Normalfall ihre Konfession weiter ausüben, doch kamen immer wieder auch Konversionen vor. Nicht konfessionell beschränkt waren die Freizeitaktivitäten wie Wirtshaus, Turnverein, Tanz, Kirmes und Fastnacht.
Was die Vermögensverhältnisse angeht, so verlief Armut "jenseits von Bekenntnisgrenzen und paarte sich mit ökonomischen Verflechtungen" (335). Dietrich kann wohl ausmachen, dass Katholiken wirtschaftlich von Protestanten abhängiger waren als umgekehrt. Im Alltagsleben war aber wirtschaftliche Koproduktion eher die Regel als die Ausnahme. Das zeigt sich bis hinein in die Wahl der Dienstboten und Mägde. Politische und Nationalfeste wurden überall gefeiert, wenn auch mit unterschiedlichem Aufwand; in den kirchlichen Kult griffen sie direkt nicht ein. Bei der Beurteilung der Wahlergebnisse sind die differenten Wahlrechtssysteme in Betracht zu ziehen. Ihre konfessionelle Relevanz ist denn auch von der Herstellung und Beachtung gleichberechtigter Lebensverhältnisse vor Ort zu beurteilen.
Für die Katholizismus- und Protestantismusforschung stellt die Studie von Tobias Dietrich einen wichtigen Beitrag dar. Er kann aufzeigen, dass in bevölkerungsmäßig kleinen dörflichen Einheiten Konfession zwar einen Faktor darstellte, der bei der Beschreibung der Lebensverhältnisse zu berücksichtigen ist. Im Vordergrund steht jedoch der soziale Ausgleich vor Ort. Konfessionell bedingte Konflikte entstehen dann, wenn dieses Gleichgewicht durch endogene oder exogene Faktoren gestört erscheint. Die "Cleavage"-Theorie zur Entstehung konfessioneller Milieus ist dadurch zwar nicht überholt, die Rolle der Konfession scheint aber auch für das 19. Jahrhundert deutlich hinter der dörflichen Tradition und ihren Trägergruppen zurückzutreten. Dietrichs These zweifelt an, ob man für Dorfgemeinden überhaupt von konfessionellen Sozialmilieus sprechen kann. Wohl spielt innerhalb des "Milieus Dorf" der Faktor Konfession eine wichtige, wenn auch je nach Ausgangskonstellation wechselnde Rolle. In diesem Sinne sind deshalb die Theorien zu den konfessionellen Milieus neu zu bedenken und zu modifizieren.
Dietrichs Arbeit ist sehr sorgfältig recherchiert, wovon hundert Seiten Quellen- und Literaturverzeichnis sowie informative Tabellen zeugen. Mit spritzigen Formulierungen versteht der Autor seine Leserschaft zu fesseln und zu provozieren. Dass dabei das eine oder andere Mal fehlerhafte Satzkonstruktionen computerbedingt stehen geblieben sind, mindert das Lesevergnügen nicht.
Tobias Dietrich: Konfession im Dorf. Westeuropäische Erfahrungen im 19. Jahrhundert (= Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte; Bd. 65), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, 511 S., ISBN 978-3-412-07104-2, EUR 54,90
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