Die gegenwärtigen Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Staat und Wirtschaft, die gegensätzlichen Positionen zwischen den Extremen '(sozialstaatlicher) Interventionismus' und '(Neo-)liberalismus' sind keine Erfindung der krisengeschüttelten Wohlstandsgesellschaft. Sie stehen in einer langen historischen Kontinuitätslinie des Diskurses über die soziale und politische Gestaltung der Ökonomie im Spannungsverhältnis von Effizienz, Freiheit und Gerechtigkeit. Die Arbeit von Rudolf Boch zeigt dies in aller wünschenswerten Deutlichkeit. Sie verfolgt die Ideen und Vorstellungen über das Verhältnis von Staat und Wirtschaft, aber auch die realen Wechselwirkungen zwischen beiden Bereichen im Übergang zur industriellen Moderne.
Die Darstellung ist nach dem vorgegebenen Gliederungsprinzip der Reihe abgefasst: knapper historischer Überblick (circa 50 Seiten), Diskussion von Grundproblemen und Tendenzen der Forschung (50 Seiten), ausführliche Bibliografie (20 Seiten). Den Ausgangspunkt bildet eine Skizze des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft, wie es sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts herausgebildet hatte. Als wesentliches Moment identifiziert der Verfasser dabei die begriffliche Erfassung und Systematisierung der Wirtschaft durch Kameralismus und Merkantilismus. Mit dieser 'Erfindung der Ökonomie' und ihrer Konstituierung als eigenständiges soziales Subsystem war die Ablösung von der staatlichen Sphäre prinzipiell vorbereitet. Die Regulierung durch die Instanzen des Staates erschien ebenso wie ihre Instrumentalisierung für die Bedürfnisse der Obrigkeit seither nicht mehr als alternativlose Selbstverständlichkeit. Sie konkurrierte mit dem Anspruch der Gesellschaft beziehungsweise der wirtschaftlichen Akteure auf Autonomie.
Aus der Trennung der beiden Systeme folgte die Frage nach dem Verhältnis zwischen ihnen, vor allem nach der Rolle des Staates als normensetzender Instanz und als wirtschaftlicher Interessent. Liberales und interventionistisches Paradigma steckten dabei idealtypisch das Spektrum ab, innerhalb dessen sich die Antworten seit Beginn des 19. Jahrhunderts bewegten und - nebenbei bemerkt - bis heute bewegen. Die empirische Analyse macht dann aber hinreichend deutlich, dass das Verhältnis von Staat und Wirtschaft durch eine jeweils spezifische Mischung dieser beiden Prinzipien geprägt wurde und deshalb historisch immer nur als sich wandelnder Realtypus fassbar ist.
Der Verfasser gliedert die Darstellung in drei Abschnitte über Staat und Wirtschaft während der Reformära und im Vormärz, zwischen 1848 und der Reichsgründung beziehungsweise der wirtschaftpolitischen Wende der Jahre 1878/79 sowie schließlich bis 1914. Die Gliederung folgt damit den großen politischen beziehungsweise wirtschaftspolitischen Konjunkturen und Paradigmenwechseln. Den jeweiligen Hauptlinien der Entwicklung entsprechend ergeben sich für jeden Zeitabschnitt unterschiedliche Schwerpunkte: Für die Zeit vor 1848 liegt der Fokus vor allem darauf, wie der Staat durch Reformen im Agrar- und Gewerbesektor, durch Zoll- und Finanzpolitik, durch Infrastruktur- und Geldpolitik die Wirtschaftsordnung gestaltete und durch eigene staatliche Unternehmertätigkeit sowie durch aktive Gewerbeförderung wirtschaftliches Wachstum zu stimulieren suchte. Die deutlichere Formierung privatwirtschaftlicher Interessen im Umfeld von 1848, der "Wandel des staatlichen Aufgabenregimes" (28) hin zu einer stärkeren Verantwortung des Staates für die Wirtschaft und die folgenreiche Entscheidung für die Großindustrie erscheinen als Ausdruck einer stärkeren 'Politisierung' der Wirtschaft um die Jahrhundertmitte.
Dieser Trend setzte sich seit den 1880er-Jahren unter nationalistisch-konkurrenzorientierter Aufladung nach außen und konservativ-herrschaftsstabilisierender Instrumentalisierung nach innen fort. Er führte zu einem dramatischen Bedeutungszuwachs des Staates für die Ökonomie und kam im weiter zunehmenden Interventionismus zum Ausdruck. In der Wirtschaftsordnungspolitik und im handelspolitischen Protektionismus, in der Infrastrukturpolitik und im Wachstum der Staatsausgaben, so das Fazit, seien bereits vor 1914 "die wichtigsten Politikmuster zur intervenierenden Moderierung und sozialen Stabilisierung des Industrialisierungsprozesses sowie zur korporativen Integration wirtschaftlicher Interessen" entwickelt worden, die das Verhältnis von Staat und Wirtschaft im 20. Jahrhundert bestimmen sollten (54).
Diesem Fundamentaltrend gegenüber erscheint die "liberale Phase" als extrem kurzes Zwischenspiel: Offenbar erlangte das freiheitliche Paradigma nur in den 1860er- und 1870er-Jahren eine vorübergehende, aber auch hier nur relative Vorherrschaft. Der Band erzählt letztlich also - und hier stimmt der Rezensent dem Verfasser zu - eine Geschichte des politisch und sozial gebundenen Wirtschaftens, das alle Epochengrenzen und Systemwechsel überdauerte, dabei aber seine Formen und Funktionen wandelte. Die Ökonomie unterlag staatlichem Einfluss zwar in unterschiedlichem Ausmaß, aus wechselnden Motiven und auf unterschiedliche Weise, war aber letztlich niemals 'frei'.
Der Überblick über "Grundprobleme und Tendenzen der Forschung" beschränkt sich auf zwei Themenkomplexe. Der Erste über die Rolle des Staates im Industrialisierungsprozess, über sein Agieren zwischen Gemeinwohl und Eigeninteresse sowie zwischen Eigenständigkeit und Instrumentalisierbarkeit durch partikulare Interessen, bietet einen detaillierten Abriss der Diskussion bis zur heutigen differenzierten Bewertung, zu der nicht zuletzt Boch durch seine eigenen Arbeiten maßgeblich beigetragen hat. Der Zweite behandelt ausgehend vom Streit um den "Organisierten Kapitalismus" die Versuche übergreifender Deutung und Einordnung unter Verwendung theoretischer Modelle bis hin zu aktuellen Konzepten des Korporatismus und Interventionsstaates. Dabei konstatiert Boch einerseits einen weitgehenden Konsens über den qualitativen Sprung, den die staatliche Einmischung in die Wirtschaft im Kaiserreich vollzog, andererseits eine in der Forschung immer noch bestehende Unklarheit über die Antriebsmomente für diese Entwicklung und über die Geschlossenheit beziehungsweise Offenheit der zugrunde liegenden Konzepte. Eine "Ideengeschichte des interventionistischen Denkens" (97) und konkrete Analysen von Entscheidungsprozessen könnten nach seiner Auffassung tiefere Einsichten ermöglichen. An der Debatte 'Agrarstaat vs. Industriestaat' wird dies exemplarisch vorgeführt.
Überschneidungen mit den thematisch wie chronologisch angrenzenden Bänden der Reihe lassen sich angesichts der Komplexität des Gegenstands und der vielfachen Bezüge zwischen realer ökonomischer Entwicklung, ordnungspolitischen Diskussionen und politischem System nicht vermeiden. Die eher abstrakten und systematisierenden Ansätze von Gerold Ambrosius ("Staat und Wirtschaft im 20. Jahrhundert") oder von Rainer Gömmel ("Die Entwicklung der Wirtschaft im Zeitalter des Merkantilismus 1620-1800") ergänzt Boch durch einen stärker historisch-kritischen Zugriff. Dieser ist nicht nur dazu geeignet, die komplexen Wechselwirkungen zwischen Ökonomie und Politik im jeweiligen konkreten Kontext aufzudecken. Vor allem trägt er dazu bei, die grundlegenden Denkmuster und Argumentationsfiguren der bis heute anhaltenden Dauerdebatte nach ihrer Bedingtheit durch die jeweiligen Zeitumstände und vor allem durch partikulare Interessen zu hinterfragen und vor allem jegliche Gemeinwohl-Rhetorik als Interessenpolitik zu demaskieren. Von dieser exemplarischen Ideologiekritik sollten auch Nicht-Historiker - insbesondere Wirtschaftspolitiker jeder Couleur - profitieren.
Rudolf Boch: Staat und Wirtschaft im 19. Jahrhundert (= Enzyklopädie deutscher Geschichte; Bd. 70), München: Oldenbourg 2004, XIV + 142 S., ISBN 978-3-486-55712-1, EUR 19,80
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