Es gehört zum guten Ton unter deutschen Kritikern, jedes Lob mit Hinweisen auf irgendwelche immer vorhandenen Mängel des besprochenen Werkes abzuschwächen. Auch Werner Faulstichs neuer Band seiner umfassend angelegten Mediengeschichte ist nicht fehlerfrei. Es kann beispielsweise darauf hingewiesen werden, dass unter den vielen hundert Titeln, auf die er im Laufe seiner Darstellung verweist, mindestens zwei - Obermann 1970 und Pieske 1975 - keinen Eintrag in das Literaturverzeichnis gefunden haben (und in ihrem Zusammenhang sollte eine weitere wichtige, gerade erschienene Publikation nachgetragen werden). [1] Außerdem schmerzt manchmal die Begriffsbildung, vor allem wenn immer wieder von den "elektronischen" Medien die Rede ist, dabei aber nicht nur der Telegraf und das Telefon, sondern auch die Fotografie, die Schallplatte und der Film gemeint sind, lange bevor sie ins Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit eintraten. Darüber hinaus gibt es eine völlig unplausible Konstruktion "vom Theater zur Schallplatte" (219 ff), während das viel näher liegende Thema Konzert völlig ausgelassen wurde. Und schließlich könnte noch, weit ausholend, auf Schwächen der vier vorausgegangenen Bände, in denen Faulstich die Mediengeschichte seit der Vorgeschichte aufrollt, eingegangen werden. [2]
Diese sozusagen pflichtgemäßen Einwände dürfen jedoch nicht zu dem führen, was allzu leicht geschieht: die tatsächlich erbrachte Leistung gering zu schätzen. Werner Faulstich hat mit diesem Band ein Maßstäbe setzendes Werk veröffentlicht, nach denen sich sowohl mehr am philosophischen Entwurf orientierende medienwissenschaftliche Arbeiten werden beurteilen lassen müssen wie auch stärker empirisch ausgerichtete mediengeschichtliche. Faulstich ist es nämlich gelungen, neben den zu erwartenden eine Fülle von meist vernachlässigten Medien zu behandeln und dabei den Leser nicht in einer Flut von mehr und meistens weniger relevanten Details untergehen zu lassen, sondern einen großen argumentativen Bogen zu schlagen und immer wieder mit konzisen Thesen abzustützen.
Die Weichen werden im ersten Kapitel gestellt, in dem Faulstich die "Schlüsselphänomene des gesellschaftlichen Wandels" herausstellt: das Bevölkerungswachstum, die gesellschaftliche Differenzierung, den Technikboom und die Industrialisierung. Ausdrücklich fragt er nicht nur danach, welche Rolle diese Phänomene für die Geschichte der Medien spielten, sondern auch umgekehrt, welche Rolle die Medien im Kontext der angedeuteten Faktoren besaßen (24).
Die folgenden zwölf Kapitel sind den verschiedenen Medien gewidmet, wobei die Gliederung eine mehr intuitive ist, die sich nicht zuletzt auch an der vorhandenen Forschung orientiert. Zwischen den Kapiteln zu "Zeitung und Journalismus als System" und "Zeitschrift und Illustration" ist eines zum Thema "Telegraf" eingeschoben, ehe "die Fotografie - Medium des Kleinbürgertums" abgehandelt wird. Das "Medium Bilderbogen" ("Unterhaltung und Belehrung für die Unter- und Mittelschichten") erhält genauso sein eigenes Kapitel wie der "Visualisierungsschub im Medium Blatt", wobei dann nicht nur das politische Flugblatt behandelt wird, sondern auch die vielfältigen "Varianten des Mediums Blatt in der Alltagskultur" vom Andachtsbild und der Briefmarke bis zur Visitenkarte Erwähnung finden und eine besonders interessante Form, das Sammelbild, etwas ausführlichere Darstellung erhält. Plakate sucht man in diesem Kapitel jedoch vergebens. Ihnen ist das folgende Kapitel gewidmet ("Werbeplakate, politische Plakate und Künstlerplakate"). Und auch die Ansichtskarte (samt den hintergründigen Veränderungen des Post- und Briefwesens) erhält ein eigenes Kapitel. Im zehnten Kapitel geht es dann um das "neue Medium Telefon", während das elfte unter dem Titel "Vom Buch zum Heft" vor allem die charakteristische Form des Kolportagebuchhandels und die damit verbundene "transmediale Expansion des Buchs" untersucht. Am wenigsten glücklich ist das schon erwähnte Kapitel "Vom Theater zur Schallplatte" gefügt, während ganz im Gegenteil das Kapitel über die "Anfänge des Films als komplexes System" zu den Höhepunkten von Faulstichs Darstellung zu zählen ist.
Anhand dieses Film-Kapitels lässt sich zeigen, worin Faulstichs Leistung besteht: Auf der Basis profunder Literaturkenntnis gruppiert er den vorhandenen Kenntnisstand um jeweils in einer knappen Einleitung vorgestellte Schwerpunkte, in diesem Falle um Mediengeschichte als Technikgeschichte (Kapitel 13.1), als ästhetisch akzentuierte Personen- und Produktgeschichte (13.2), als soziologische und ökonomisch geprägte Kino- und Institutionengeschichte (13.3) und als psychologisch ausgerichtete Wahrnehmungsgeschichte (13.4), um am Ende das einzelne Medium "im Kontext einer umfassenden Mediengeschichte" zu lokalisieren (233).
Die Ergebnisse führt Faulstich in einem knappen, äußerst verdichteten Abschlusskapitel zusammen. Zu seinen zentralen Befunden zählt, dass die "Medien als Steuerungs- und Orientierungssysteme zunehmend kapitalisiert wurden, d. h. Kultur wurde immer stärker dem ökonomischen Teilsystem untergeordnet. Medienkultur insgesamt tendierte dabei primär zur Unterhaltung" (256). Weiterhin stellt er heraus, dass dabei die "Medienkultur des Industrie- und Massenzeitalters [...] in direkter Wendung gegen die bürgerliche Medienkultur des 18. Jahrhundert" die "Sinnlichkeit" wieder entdeckte, vor allem in Form der Visualisierung, die Karikaturen, Fotografien und Illustrierten und vielem anderen mehr zu einem ungeahnten Aufschwung verhalf (256 f.). Dies geschah jedoch nicht schichtenneutral, sondern schichtendifferenzierend, vor allem in für Mittel- und Unterschichten spezifizierten Formen. "Die Medien bewirkten, begleiteten und nutzten" insofern "die Ablösung der Ständegesellschaft durch die Schichtengesellschaft" (257). Und schließlich erfuhr die mediale Vermittlung durch die neuen Medien Fotografie, Telefon, Schallplatte und Film eine grundlegende Veränderung: weg von der "oralen Kommunikation über Menschen in Wirklichkeit" und der "literalen Kommunikation mit gedruckter Sprache über Wirklichkeit" hin zur "elektronischen Kommunikation mittels der Reproduktion von Wirklichkeit" (259).
Man darf gespannt sein, wie Werner Faulstich die Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts bewältigen wird.
Anmerkungen:
[1] Karl Obermann: Flugblätter der Revolution: eine Flugblattsammlung zur Geschichte der Revolution von 1848-49 in Deutschland, Berlin 1970; Christa Pieske: Bürgerliches Wandbild: 1840-1920. Populäre Druckgraphik aus Deutschland, Frankreich und England, Göttingen 1975; ergänzend die Neuerscheinung: Bernhard Jussen (Hg.): Liebig's Sammelbilder. Vollständige Ausgabe der Serien 1 bis 1138 auf CD-Rom, Berlin 2002.
[2] Vgl. hierzu die Rezension von Klaus Beyrer in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 9 [10.09.2004]; URL: http://www.sehepunkte.de/2004/09/1990.html
Werner Faulstich: Medienwandel im Industrie- und Massenzeitalter (1830-1900) (= Die Geschichte der Medien; Bd. 5), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, 302 S., ISBN 978-3-525-20791-8, EUR 49,90
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