Im Vorwort seiner 1984 erschienenen Streitschrift "Verbrechermenschen" bekennt der Grazer Philosoph Peter Strasser, es sei ihm nicht immer leicht gefallen, sich "mit klarem Blick und kühlem Kopf in die Verschlingungen des kriminologischen Denkens einzulassen". [1] Gerade die genuin interdisziplinäre Struktur kriminologischen Wissens führte lange Zeit zur Vernachlässigung der Kriminologiegeschichte. In den letzten Jahren nehmen sich vor allem Historiker verstärkt Problemstellungen im Grenzbereich zwischen Strafrechtswissenschaft, Medizin, Psychologie und Soziologie an. [2] Dass das Thema dennoch keineswegs erschöpfend behandelt ist, belegt Christian Müller mit seiner Studie, einer von Dirk Blasius betreuten Essener Dissertationsschrift, die einen besonders wertvollen Beitrag zur Schnittstelle von psychiatrischem und juristischem Wissen darstellt.
Seinen Weg durch die "Verschlingungen des kriminologischen Denkens" sucht sich Müller durch eine Begrenzung des Gegenstandes auf die "Berührungsflächen von Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtspflege" einerseits und die "Schnittflächen zwischen psychiatrisch-kriminologischer Wissenschaft und der Praxis des Strafsystems" andererseits (17). Institutionen- und im engeren Sinne disziplingeschichtliche Aspekte werden dabei weitgehend ausgeblendet. Diese Begrenzung überzeugt, weil sie den Blick frei macht für eine immer noch weit gespannte Fragestellung. Müller verklammert dabei die medizinhistorische mit der rechthistorischen Ebene durch das Konzept der "Medikalisierung", das als Ausschnitt der von Lutz Raphael entwickelten Idee einer "Verwissenschaftlichung des Sozialen" begriffen wird. Müller geht es also vor allem darum zu zeigen, wie medizinisches Expertenwissen den Verlauf der Diskussion um die Strafrechtsreform beeinflusste. Er stützt sich dabei nicht nur auf eine bemerkenswerte Zahl zeitgenössischer wissenschaftlicher Publikationen sowie auf eine Auswertung der 15 wichtigsten Fachzeitschriften, sondern bezieht auch archivarisches Schriftgut auf den unterschiedlichen Ebenen der Verwaltung und der Gesetzgebung ein.
Im ersten Kapitel zeichnet Müller die Debatten des späten Kaiserreichs nach, hebt die besondere Bedeutung der forensischen Psychiatrie hervor und stellt anhand einiger Einzelprobleme die wichtigsten medizinischen Deutungsansätze von Kriminalität vor. Diese werden dann in Beziehung gesetzt zu den zeitgleich verlaufenden administrativen und legislativen Versuchen einer institutionellen Bewältigung des Kriminalitätsproblems. In einem dritten Schritt folgt dann die Analyse der Bedeutung psychiatrischen Expertenwissens für den Verlauf der Debatte um die Strafrechtsreform, wie sie vor allem von Franz von Liszt und seiner "modernen Schule" gefordert wurde.
Nach einer kurzen Analyse der Bedeutung des Ersten Weltkriegs folgt im zweiten Kapitel eine Darstellung der Weimarer Entwicklung, die stark von den Debatten um die letztlich gescheiterte Strafrechtsreform geprägt war. Müller zeigt, wie sich nun die "Reformdiskussion zunehmend in den Bereich des Politischen verlagerte" (183) und exemplifiziert dies am Beispiel der Diskussion um die eugenische Sterilisation. Ausführlich schildert er dann den für die Weimarer Zeit wichtigen Zusammenhang zwischen dem Konzept des Stufenstrafvollzugs und der nunmehr zum Leitbild der Kriminologie erhobenen Kriminalbiologie. Das Buch schließt mit einem Ausblick auf das 'Dritte Reich'.
Besonders eindrucksvoll ist Müllers Darstellung dort, wo er den verschiedenen psychiatrischen Konzepten der Kriminalität nachgeht. So belegt er am Beispiel der psychiatrischen Diskussion um die Homosexualität das emanzipatorische Potenzial von Medikalisierungstendenzen: Am Ende dieser um die Jahrhundertwende geführten Debatte stand die Forderung einer Mehrheit der deutschen Psychiater nach Abschaffung des diskriminierenden § 175 StGB, weil man zu der Überzeugung gelangt war, dass Homosexualität keine Entartung oder Krankheit, sondern lediglich eine "natürliche Spielart" darstelle (53-58).
Überzeugend gelingt über weite Strecken auch die Darstellung der bislang nur unzureichend aufgearbeiteten Strafrechtsreform. Allerdings liegen gerade dort, wo die juristische Seite des Diskurses beleuchtet wird, auch einige der Schwächen des Buchs. Hier zeigen sich die problematischen Züge des Medikalisierungkonzepts, das bereits im Ausgangspunkt sein Ergebnis vorwegzunehmen scheint, nämlich einen wachsenden Einfluss der Psychiatrie auf Diskurs und Praxis des Strafrechts. Auch wenn Müller diese Gefahr über weite Strecken durch eine sauber begründete Beschreibung der Zusammenhänge bannt, so verbleibt doch, zumindest aus rechtshistorischer Sicht, eine gewisse Skepsis hinsichtlich einiger seiner zentralen Thesen.
So argumentiert Müller, die Auseinandersetzung von Juristen wie Franz von Liszt mit Forderungen von Psychiatern wie Emil Kraepelin nach einer unbestimmten Sicherungsstrafe habe den juristischen Schulenstreit ausgelöst und dazu geführt, dass sich die "moderne Schule" auf eine Politik der "defensiven Modernisierung" eingelassen habe, um "juristische Methoden und Kompetenzen gegen psychiatrische Anfechtungen zu verteidigen" (293). Zutreffend ist dabei zwar, dass Liszt Kraepelins Streitschrift über die "Abschaffung des Strafmaßes" von 1880 kannte und verarbeitete. Im Übrigen lässt aber eine Durchsicht seiner Werke keine intensive Auseinandersetzung mit den Debatten der Psychiater erkennen. Sofern tatsächlich die juristische Diskussion zunehmend naturwissenschaftlich-positivistisch beeinflusst wurde, so müssten hier die historisch teilweise älteren Auseinandersetzungen innerhalb der wissenschaftlichen Jurisprudenz mit berücksichtigt werden. Ursprünglich naturwissenschaftliche Konzepte wie der von Liszt betonte "Entwicklungsgedanke" wurden, wo sie nicht ohnehin zeittypisch waren, teilweise bereits Jahre vor Kraepelins Streitschrift durch Juristen wie Rudolf von Jhering für den juristischen Bereich adaptiert.
Gerade die mangelnde Vertrautheit mit den durchaus nicht unkomplizierten dogmatischen Zusammenhängen führt Müller auch sonst gelegentlich auf das Glatteis allzu einseitiger Interpretation. Dies gilt etwa für die immer wieder hervorgehobene Charakterisierung des "klassischen Strafrechts" als "Vergeltungsstrafrecht" (24, 70, 124, 292), obwohl in der rechtshistorischen Literatur inzwischen als geklärt gilt, dass im Strafrecht seit Beginn des 19. Jahrhunderts stets eine Mischform aus absoluten und relativen Straftheorien vorherrschte. [3]
Auch bei der Betrachtung der forensischen Praxis ist zu fragen, ob Müller den Einfluss der Psychiater nicht überbetont. So wird zutreffend auf die Frage der Zurechnungsfähigkeit als Schnittstelle der praktischen Auseinandersetzung zwischen Juristen und Medizinern hingewiesen (24). Fraglich ist aber, ob allein die Betrachtung dieses in der forensischen Praxis zwar nicht unbedeutenden, aber eben doch begrenzten Problemkomplexes genügt, um allgemein eine methodische und inhaltliche "Defensive" der Juristen gegenüber den Psychiatern zu postulieren.
Trotz dieser Einwände bleibt festzuhalten, dass Müller nicht nur ein flüssig und jederzeit spannend zu lesendes Buch geschrieben hat, sondern gerade auch mit seinen quellengesättigten Detailanalysen eine wichtige Grundlage für weitere, gerade auch rechtshistorische Forschung legen konnte.
Anmerkungen:
[1] Peter Strasser: Verbrechermenschen. Zur kriminalwissenschaftlichen Erzeugung des Bösen, 2. Auflage, Frankfurt am Main 2005, 7.
[2] Richard Wetzell: Criminal Law Reform in Imperial Germany, Stanford, Diss. 1991; ders.: Inventing the Criminal, Chapel Hill 2000; Peter Becker: Verderbnis und Entartung, Göttingen 2002; Silviana Galassi: Kriminologie im Deutschen Kaiserreich, Stuttgart 2004; Urs Germann: Psychiatrie und Strafjustiz, Zürich 2004.
[3] Monika Frommel: Präventionsmodelle in der deutschen Strafzweckdiskussion, Berlin 1987, 43-52.
Christian Müller: Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat. Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsreform in Deutschland 1871-1933 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 160), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, 337 S., ISBN 978-3-525-35141-3, EUR 38,90
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