In dem vorliegenden Buch sind vierzehn Vorträge veröffentlicht, die während eines von Frank Kolb am Historischen Kolleg in München veranstalteten Kolloquiums zur Frage des Verhältnisses von Stadt und Land in der Antike gehalten wurden; der Schwerpunkt lag dabei auf dem Landgebiet der Polis im östlichen Mittelmeerraum.
In seiner Einführung (IX-XV) gibt Kolb einen Überblick über das Thema, die Fragestellung seiner Forschungen und des Kolloquiums sowie die zur Beantwortung der anfallenden Fragen angewandten Methoden. Grundlegend ist das Problem der antiken Wirtschaftsweise und damit der Streit zwischen Primitivisten und Modernisten um Subsistenzwirtschaft oder Marktorientierung sowie die Frage, ob das Landgebiet einer Polis durch die Stadt ausgebeutet wurde. Indem er auf die Möglichkeiten neuer Erkenntnisse hinweist, die durch jüngere Forschungsrichtungen wie Untersuchungen von Akkulturationserscheinungen sowie der administrativen Organisation und kultischen Gegebenheiten auf dem Land wie auch durch die Methode des Survey - trotz aller Probleme im Einzelnen - möglich sind, gibt er den Rahmen des Kolloquiums vor.
Diesen Vorgaben folgen alle Vorträge. Was dabei gleich auffällt, ist die Verschiedenheit des Umfangs und der Vorgehensweise der einzelnen Projekte, die Vielfalt der Methoden, die angewandt werden, und die Unterschiede in der Materialbasis, auf deren Grundlage man zu Ergebnissen kommen muss. Unterscheidet man die Surveys nach ihrem Umfang hinsichtlich der Fragestellung sowie des chronologischen und geographischen Rahmens, stehen die Unternehmen von F. Kolb in Kyaneai (1-42) und H. Lohmann in der Milesia (325-360) an der Spitze. Sie versuchen beide, ein möglichst umfassendes Bild der antiken Lebensbedingungen der ausgewählten Region zu rekonstruieren. Ähnlich zielgerichtet ist der Survey in der lykischen Kleinstadt auf dem lykischen Bonda Tepesi von Th. Marksteiner (271-290); aber obwohl er sich auf ein kleineres Gebiet beschränkt und mit geringeren Mitteln durchgeführt werden musste, zeigt er dennoch, dass unter günstigen Bedingungen des natürlichen Raums und der Erhaltung verlässliche Ergebnisse möglich sind.
Einige der vorgestellten Surveys widmen sich dagegen ausgewählten Teilaspekten der Siedlungsgeschichte. So geht es J. C. Carter/St. M. Thompson/J. Trelogan um die Aufteilung des verfügbaren Landes, dargestellt im Vergleich zwischen Metapont und der Krim (127-145), und S. Saprykin um die Aufteilung des Agrarlandes im Bosporanischen Reich zwischen den griechischen Poleis und den Königen (185-210); M. H. Jameson untersucht die Funktion extra-urbaner Heiligtümer am Beispiel der südlichen Argolis (147-183), Chr. Schuler die politischen Organisationsformen auf dem Territorium von Kyaneai (87-102), U. Hailer u. A. Hanly Gehöfte und kleine Siedlungen ebendort (211-248), L. Foxhall Gehöfte in Griechenland (249-270) und P. Ørsted Bevölkerungszahlen und landwirtschaftliche Produktion in Nordafrika (303-323).
Die Teilnehmer des Kolloquium sind sich bewusst, dass die verschiedenen (siedlungs)geographischen Gegebenheiten der untersuchten Gebiete zu beachten sind, und das bezieht sich nicht nur auf die von der Natur größtenteils vorgegebene Siedlungsweise in der Antike, sondern ebenfalls auf die Besiedlung der Gegenwart: Gebiete, die früh aufgegeben wurden, lassen andere Fund erwarten als solche, die mehr oder weniger durchgehend bewohnt waren. Dazu kommen noch die unterschiedlichen natürlichen Bedingungen, die die Erhaltung des antiken Materials beeinflussen. Wohl am klarsten wird die Bedeutung geographischer Untersuchungen in dem Beitrag von M. Brunet angesprochen (79-86), der einen geographisch-archäologischen Survey auf Thasos durchgeführt hat. Allerdings warnt er auch mit Recht davor, geographische und klimatische Faktoren überzubewerten, denn eine aufgrund günstiger natürlicher Bedingungen exportorientierte Produktion bringt nur wirtschaftliche Vorteile, wenn man gleichzeitig für eine angemessene "geopolitische" Situation sorgt.
Was die angewandten Methoden angeht, so wird zunächst eine Unterscheidung in "extensiven" und "intensiven Survey" vorgenommen; bei ersterem sucht man ein Gebiet grob auf antike Überreste ab, während man es beim zweiten systematisch durchkämmt und alle sichtbaren Reste verzeichnet und auswertet. Und natürlich gibt es die Kombination von beidem: einen extensiven Survey, der an "lohnenden" Orten durch begrenzte intensive Surveys ergänzt werden kann. Des weiteren werden bisweilen Surveys auch auf der Grundlage ihres hauptsächlichen Fundmaterials unterschieden; so spricht man zum Beispiel von "Architektursurveys" und "Keramiksurveys". Und damit setzt auch gleich die Problematik ein, denn jedes Fundmaterial hat seine eigene Aussagekraft, aber ebenfalls seine eigenen Schwierigkeiten. Die Vielzahl der mit Surveys verbundenen Probleme wird in diesem Band dann auch klar angesprochen. Eine wichtige Frage ist dabei zum Beispiel, inwieweit die Ergebnisse eines "Keramik-Surveys" überhaupt mit denen eines "Architektur-Surveys" verglichen werden können.
Selbst wenn man in der glücklichen Lage ist, mehrere Arten von Funden und Befunden zur Verfügung zu haben und man daher zu verhältnismäßig gesicherten Ergebnissen für sein Gebiet kommen kann, so schließt sich umgehend die Frage an, inwieweit die Ergebnisse auf andere Gebiete übertragbar sind und - noch wichtiger - ob man aus ihnen irgendwelche für den gesamten Mittelmeerraum gültigen Schlüsse ziehen kann. So stellt sich beispielsweise die Ölproduktion in zwei der untersuchten Gebiete als wichtig für die Exportorientierung der lokalen Wirtschaft heraus, im lykischen Bonda (Th. Marksteiner, 271-290) und im nordafrikanischen Segermes-Tal (P. Ørsted, 303-323). Jedoch lassen sich aus diesem Befund offenbar durchaus unterschiedliche Schlüsse ziehen, und so ist die Behandlung dieser beiden Gebiete besonders im Vergleich höchst interessant. Während Ørsted nämlich eher der Finley-These der "consumer-city" mit einem verhältnismäßig großen Unterschied zwischen Stadt und Land zuneigt, scheint der Bonda-Survey, unterstützt durch die Auswertung einer Inschrift durch M. Wörrle (291-302), Hinweise auf das Gegenteil zu enthalten. Es ist nicht leicht zu entscheiden, ob die Gegebenheiten in diesen beiden Regionen wirklich so unterschiedlich waren, oder ob die sich widersprechenden Ergebnisse auf die Natur des Funde oder gar auf die Interpretation der mit ihnen beschäftigten Gelehrten zurückzuführen sind - auffällig ist jedenfalls, dass auch Chr. Schuler in seiner auf Lykien und speziell auf Kyaneai konzentrierten Untersuchung (87-102) zu ähnlichen Ergebnissen kommt wie Marksteiner und Wörrle.
Das führt zu der Frage der historischen Auswertung des Fundmaterials. Da man davon ausgehen muss, dass gerade bei einer Oberflächenuntersuchung immer nur ein Bruchteil des ursprünglich vorhandenen Materials zur Verfügung steht, wird bisweilen der Versuch unternommen, sich zur Hochrechnung statistischer Methoden zu bedienen. Die großen Unsicherheiten dabei zeigen die Beiträge von J. Bintliff/Ph. Howard über Boiotien (43-78), L. Foxhall über die Argolis (249-270) und P. Ørsted über Nordafrika (siehe oben), wobei zumal der erste auch - wahrscheinlich unabsichtlich - deutlich macht, dass der Umgang mit Statistiken und Hochrechnungen oftmals nur schwer nachvollziehbar ist.
Wenn weiterhin M. Jameson zu dem Schluss kommt, dass die Zahl der archäologisch bezeugten Heiligtümer bedeutend kleiner ist als die in der Literatur genannten (157), so spricht er damit nicht nur einige der schon erwähnten Probleme an, sondern auch einen für die historische Auswertung wichtigen Punkt, nämlich die Verbindung der Funde und Befunde mit schriftlichen Quellen. Oft nämlich erhalten archäologische Ergebnisse erst dann historische Aussagekraft, wenn sie durch Literatur oder Inschriften erklärt werden können. Daher sind auch solche Surveys von größter Wichtigkeit, die sich auf die Suche und Untersuchung von Inschriften (in ihren Kontexten!) konzentrieren. Ein gutes Beispiel ist - neben den schon genannten Beiträgen von M. Wörrle und Chr. Schuler - die Abhandlung von B. Iplikçioglu über ländliche Siedlungen und das Territorium von Termessos in Pisidien (103-125).
Die gesamte Problematik, vor allem die der Methoden und Möglichkeiten der Vergleichbarkeit und der historischen Auswertung von Survey-Ergebnissen, ist schließlich zusammengefasst in zwei Stellungnahmen (H.-J. Gehrke, 361-367, und R. Osborne, 369-374). Hier wird noch einmal eindringlich auf die Bedeutung "begleitender" Schriftquellen und grundlegender Theorien hingewiesen. Und als ein wichtiges Ergebnis der Tagung ist vor allem die Notwendigkeit festzuhalten, einheitliche Standards zu entwickeln, die es eher ermöglichen würden, die aufgrund unterschiedlicher Voraussetzungen zwangsläufig verschiedenen Surveys und ihre Ergebnisse miteinander in Beziehung zu setzen und so vergleichbar zu machen.
Dieser Kolloquiumsband erfüllt somit in gelungener Weise zwei Aufgaben: Einmal ist er eine willkommene und hilfreiche Zusammen-, aber auch Gegenüberstellung von Methoden und Ergebnissen bisweilen sehr unterschiedlicher Surveys, und zum zweiten kann und sollte er als Grundlage und Ansporn zur Entwicklung einheitlicher Richtlinien bei der Durchführung und Auswertung dienen.
Frank Kolb (Hg.): Chora und Polis (= Schriften des Historischen Kollegs; Bd. 54), München: Oldenbourg 2004, XVIII + 382 S., 134 Abb., ISBN 978-3-486-56730-4, EUR 64,80
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