Mittlerweile herrscht - nicht nur innerhalb der Gender Studies - Einigkeit darüber, dass Eigenschaften, Rollen und Funktionen, die Weiblichkeit bzw. Männlichkeit konstituieren, gesellschaftliche Konstrukte und damit wandelbar sind. Während die Untersuchung von Frauenbildern und Weiblichkeitsstereotypen bereits in den 1970er-Jahren zu einem eigenständigen Forschungsbereich der Women's Studies avancierte, entstanden die Men's Studies erst in den 1980er-Jahren. Wie in der frühen feministischen Forschung verfahren die Untersuchungen dabei weitgehend in geschlechtsspezifischer Exklusivität. Dies gilt auch für diesen ersten deutschsprachigen Sammelband, der sich der Erforschung visueller Inszenierungen von Männlichkeit in der Kunst seit der Frühen Neuzeit widmet. Der aus einer Tagung des Graduiertenkollegs "Psychische Energien bildender Kunst" hervorgegangene Band positioniert sich dabei jedoch fruchtbarerweise an der keineswegs unumstrittenen Schnittstelle zwischen Gender, Gay und Queer Studies. Die hier zur Debatte stehenden erkenntnistheoretischen und politischen Divergenzen, insbesondere zwischen der feministischen und der identifikatorischen schwulen Forschung, werden in Abigail Solomon-Godeaus einleitendem Beitrag im Kontext der US-amerikanischen Wissenschaftskultur und Theoriebildung skizziert. Die darauf folgenden zwölf Beiträge der aus dem deutschsprachigen und angloamerikanischen Raum stammenden Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker sind chronologisch angeordnet und konzentrieren sich auf Krisenmomente, "in denen Leitbilder von Männlichkeit ins Wanken gerieten und sich wandelten" (3). Dazu zählen die Herausgeberinnen vor allem die italienische Renaissance, die Französische Revolution und die Schwelle zur bürgerlichen Moderne. Dementsprechend richtet sich das Hauptaugenmerk der Beiträge auf "randständige Form[en] von Männlichkeit" (ebd.) und Grenzphänomene wie Homoerotik, Effeminierung, Androgynie und Transvestismus.
Das kultur- und sozialhistorische Bezugsfeld der Beiträge von W.B. Randolph, Marianne Koos und Daniela Bohde zur italienischen Renaissance bildet die damals weit verbreitete und gerichtlich verfolgte Sodomie, insbesondere das sexuelle Verhältnis zwischen einem jüngeren und einem älteren Mann. Vor allem Randolph macht sich das von Eve Kosofsky Sedgwick entwickelte Konzept des Homosozialen zu Nutze, um männliche Erotik auf ihre politische Funktion hin zu befragen, statt sie einseitig auf den sexuellen Aspekt zu reduzieren. Vor diesem theoretischen Hintergrund gelingt ihm eine Neuinterpretation von Donatellos bronzenem David, den er als eine Visualisierungsform versteht, in der das ambivalente Verhältnis der Medici zur Sodomie eine politische Bedeutung gewinnt. Der knabenhafte David wirkt zugleich anziehend und abstoßend, er triumphiert über das Laster während er gleichzeitig dessen Verführungsmacht verkörpert. Die Integration der sozialen und sexuellen Praktik der Sodomie in die öffentliche (Selbst-)Repräsentation der Medici, insbesondere des jungen Lorenzo de' Medici, ermöglichte die Behauptung einer moralischen Überlegenheit, die politischen Führungsanspruch legitimiert. Eine gänzlich andere Funktion hatte dagegen der erotische Aspekt von Tizians so genannten 'lyrischen Männerporträts', wie Marianne Koos hervorhebt. Sie liest diese Porträts im Zusammenhang mit der petrarkistischen Liebeslyrik und deutet sie als Ausdruck eines sinnlich-empfindsamen, eskapistischen Subjektentwurfs. Im Kontext der höfischen Liebesmodelle konstruierten diese effeminierten Bildnisse keine 'homosexuelle Identität' innerhalb einer männlichen Gemeinschaft, sondern dokumentierten die Zugehörigkeit zur poetisch-lyrischen Kultur des Giorgionismo. Auch Daniela Bohde weist in ihrem Beitrag über Darstellungen des Heiligen Sebastians Bezüge zur Sodomie zurück. Bei dieser ahistorischen Lesart handle es sich um eine Rückprojektion einer im 19. Jahrhundert einsetzenden homoerotisch geprägten Rezeption. Die Autorin betrachtet die Sebastiansbilder im Spannungsfeld von Martyrium, Pest und Schönheit und somit von Religiosität und Sinnlichkeit. Der schöne, meist feminisierte Körper des Pestheiligen idealisiert und erotisiert körperliches Leiden im Märtyrerkult und "kann ein Gegenbild zu realgeschichtlichen Körpererfahrungen in Pestzeiten sein" (98).
Wie Koos und Bohde nahe legen, sind Figurationen femininer Männlichkeit nicht notwendigerweise an einen sodomitischen bzw. homosexuellen Kontext gebunden, sondern können vielfältige historisch und kulturell variable Implikationen und Funktionen haben. Mechthild Fend, die sich der Darstellung jungfräulicher Knaben in der Bildkultur um 1800 widmet, deutet die Androgynie vor dem Hintergrund bürgerlicher Auffassungen von Adoleszenz, wie sie sich insbesondere in Erziehungsschriften (vor allem Rousseau) niedergeschlagen haben. Männliche Adoleszenz wird "als eine Phase geschlechtlicher Unentschiedenheit" (186) charakterisiert, die mit einer Identitätskrise einhergehe. Am Beispiel von Thorvaldsens Skulpturengruppe Amor und Psyche legt die Autorin dar, dass trotz der Androgynität sexuelle Differenz keineswegs negiert wird; stattdessen wird das Erwachen des Geschlechtsbewusstseins thematisiert. Nach Meinung der Autorin koexistieren im späten 18. Jahrhundert zwei Modelle der Geschlechterdifferenz (one- und two-sex-model). Vielleicht ermöglicht aber gerade die Annahme eines 'Zwei-Geschlechter-Modells' die Annäherung von Geschlechterstereotypen, wie sie in der Kultur der Empfindsamkeit nicht nur in Bezug auf die Körperauffassung zu beobachten ist.
Zu bedenken ist bei diesen kontextorientierten Ansätzen jedoch, dass sich Rezeptions- und Umgangsweisen aus den unterschiedlichsten Gründen nicht unbedingt in Texten wieder finden lassen. Dennoch sind historische und kulturelle Differenzierungen für ein tieferes Verständnis unerlässlich. Dies zeigt nicht zuletzt der Beitrag von Whitney Davis, der nachweist, dass Sigmund Freud sowohl auf empirische Daten als auch ästhetische Elemente zurückgriff, um die Ursachen männlicher Homosexualität ätiologisch zu begründen. Weniger überzeugend sind dagegen diejenigen Beiträge, die - wie Thomas Röske in seinem Beitrag zu dem flämischen Barockmaler Michael Sweerts - die biografische Rückbindung homoerotischer Momente überbetonen oder den Kontext weitgehend ausblenden. Letzteres gilt zum Beispiel für die motivgeschichtliche Untersuchung von Victoria von Flemming, die sich das literaturwissenschaftliche Konzept der Intertextualität für ihren interpikturalen Vergleich zu Nutze macht. Sie befasst sich mit Platons für die Männerliebe entworfener Metapher der freiwilligen Versklavung und deren Bearbeitung durch Michelangelo, Caravaggio und Reni. Die aufgedeckten Systemreferenzen sind leider nur von geringem Erkenntnisgewinn, denn die Autorin kommt über die Feststellung einer sinnlichen Erotik bei Caravaggio und einer (durchaus fraglichen) Verknechtung und (Selbst-)Disziplinierung der Sinnlichkeit bei Reni kaum hinaus.
Ob die vorgestellten Grenzphänomene bzw. Alternativentwürfe von Männlichkeit tatsächlich als Krisenmomente gelesen werden können, bleibt fragwürdig. Marianne Koos sieht in der Kurzlebigkeit der venezianischen 'lyrischen Männerporträts' des frühen 16. Jahrhunderts eher eine Bestätigung normativer Konstruktionen von Männlichkeit, die es vom Weiblichen abzugrenzen galt. Klaus Herding, der Pugets Milon von Kroton als Ausdruck einer Krise der Männlichkeit im absolutistischen Zeitalter deutet, zeigt auch, wie das sinnlich-erotische und anti-heroische Moment der Skulptur sich problemlos in die Repräsentationskultur Ludwigs XIV. integrieren ließ. Er hebt dabei vor allem die mimetische Qualität der Haut und des Fleisches hervor, die zur Berührung und zur Kontemplation der skulpturalen (Form-) Schönheit einlädt und das Sujet gänzlich in den Hintergrund drängt. Linda Hentschel zeigt am Beispiel von Courbets L'origine du monde, dass der zentralperspektivische Apparat, den sie "als eine Art visuelle Raumpenetrationsmaschinerie" (204) versteht, dazu beiträgt, den Akt des Sehens selbst zu sexualisieren. Die Abwesenheit eines Voyeurs im Bild ist daher nicht als Problematisierung oder gar Aufgabe der maskulinen Betrachterposition misszuverstehen. Selbst die transvestitischen Maskeraden in Jürgen Klaukes selbstinzenatorischen Fotografien der 1970er-Jahre behaupten laut Barbara Lange eine Machtposition, die ein binäres und hierarchisches Geschlechterverhältnis trotz einer Überzeichnung geschlechtsspezifischer Codes eher festigen denn unterlaufen. Amelia Jones, die sich mit den Videoinstallationen und Performances des amerikanischen Künstlers Paul McCarthy beschäftigt, konstatiert allerdings eine "löchrige Männlichkeit" (265). Ihrer Meinung nach kann "die Scharade der Männlichkeit [...] nicht länger mit derselben Autorität behauptet werden [...] wie noch zu einer Zeit, bevor der Feminismus und andere Emanzipationsbewegungen ihre Kritik zu äußern begannen" (251).
Der Tagungsband ermöglicht einen ersten Überblick über Grenzphänomene des Männlichen in der visuellen Kultur von der Renaissance bis heute. Alternative Männlichkeitsentwürfe werden meist historisch und kulturell differenziert und auf ihre jeweiligen Funktionen hin befragt. Dabei werden auch Kategorien wie Klassenzugehörigkeit oder Ethnizität - insbesondere in Viktoria Schmidt-Linsenhoffs Beitrag zu Liotards transkulturellen Maskeraden der Männlichkeit - berücksichtigt. Für die zukünftige Erforschung der Geschlechterverhältnisse in visuellen Erzeugnissen wäre eine Zusammenschau von Männlich- und Weiblichkeitsentwürfen ebenso wünschenswert wie eine stärkere Ausdifferenzierung des Methodenrepertoires und eine intensivere Auseinandersetzung mit Judith Butlers Performativitätskonzept.
Mechthild Fend / Marianne Koos (Hgg.): Männlichkeit im Blick. Visuelle Inszenierungen in der Kunst seit der Frühen Neuzeit (= Literatur - Kultur - Geschlecht. Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte. Große Reihe; Bd. 30), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, 274 S., 69 Abb., ISBN 978-3-412-07204-9, EUR 34,90
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