Die rechtshistorische Habilitationsschrift Matthias Willings widmet sich dem Werdegang einer Initiative für ein Wohlfahrtsgesetz, die über drei historische Epochen hinweg vergeblich eine Zwangsunterbringung für die als "asozial" diffamierten verelendeten oder unterprivilegierten Randgruppen in geschlossenen Fürsorgeanstalten forderte. Als die Zwangsbewahrung dann im Jahr 1962 in der Bundesrepublik Deutschland verwirklicht wurde, war ihre Wirkung gering und sie wurde bereits 1967 für verfassungswidrig erklärt. An der Quellenrezeption, die sich auf über 80 zeitgenössische Fachzeitschriften stützt, lässt sich ablesen, dass der Autor vor allem die öffentliche Debatte der Fürsorge- und Wohlfahrtsexperten untersucht. Die Auswahl berücksichtigt die unterschiedlichen beteiligten Fürsorgebereiche, sowohl das gesamte politische und weltanschauliche Spektrum der öffentlichen und freien Träger als auch die unterstützenden Fachdisziplinen wie Psychiatrie und Medizin und die zeitgenössischen Bewegungen der Sozial- und Rassenhygiene. Über den Werdegang der Protagonisten der Debatte informiert der Autor in den Fußnoten und gibt damit Aufschluss über biografische Kontinuitäten und Brüche im Übergang zum Nationalsozialismus bzw. nach Kriegsende.
Die Kernfragen der umfangreichen Untersuchung sind: Was bedeutete "Bewahrung" im Kontext eines demokratisch und eines nationalsozialistisch verfassten Staates? Inwieweit (be-)förderte die Bewahrungsdiskussion die Konstruktion eines "asozialen" Personenkreises? Wer waren die Protagonisten der Gesetzesinitiativen und welchen weltanschaulichen bzw. politischen Lagern gehörten sie an? Welche Erkenntnisse über die Kontinuitäten des sozialpolitischen und ideologischen Selbstverständnisses der Gefährdetenfürsorge kann man mittels einer rechtshistorischen Perspektive gewinnen?
Ein ausführlicher Dokumentenanhang ermöglicht die Rekonstruktion der einzelnen Stadien der Gesetzesvorlagen. Für die eingehende Bilanz von über 50 Jahren Bewahrungsgesetzdebatte, die abschließend alle wichtigen Informationen und Fragestellungen nochmals zusammenfasst, ist nicht nur der eilige Leser dankbar.
Die Initiative für ein Bewahrungsgesetz entwickelte sich kurz nach dem Ersten Weltkrieg als Forderung von Frauenrechtlerinnen und Politikerinnen, die sich mit ihren neugewonnenen politischen Rechten in den demokratischen Parlamenten als Sozialexpertinnen etablieren konnten. Der Gedanke, Menschen mit einer "asozialen" Lebensführung, "zur Bewahrung vor körperlicher oder sittlicher Verwahrlosung oder zum Schutz des Lebens oder der Gesundheit" verwahren zu wollen, weitete sich, ausgehend von der Prostituierten- und Geschlechtskrankenfürsorge, auf alle Bereiche der Gefährdetenfürsorge aus. Das "Bewahrungsklientel" stellten die klassischen "asozialen" Randgruppen, wie die als arbeitsscheu angesehenen Fürsorgeempfänger, Alkoholiker, so genannte Landstreicher und Bettler, Prostituierte, psychisch Kranke und "unerziehbare" Fürsorgezöglinge. Die im Jahr 1925 eingereichten Entwürfe für ein "Reichsbewahrungsgesetz", die nur von der KPD abgelehnt wurden, sollten den Vorrang der Fürsorge im Umgang mit devianten Verhaltensweisen sichern, die parallel auch von polizeilicher und / oder strafrechtlicher Seite geahndet wurden. Das entscheidende Problem lag in der Abgrenzung der Personengruppe und den damit verbundenen schwer kalkulierbaren Kosten. Zudem sollte die Feststellung der "Bewahrung" weit über die inhaltlichen und rechtlichen Bestimmungen des Entmündigungsverfahrens hinausgehen und gegen den Willen der Betroffenen vollzogen werden können, was mit den verfassungsrechtlich garantierten Persönlichkeitsrechten kollidierte. Im Zuge der wirtschaftlichen und politischen Krisenstimmung brachten rassenhygienische Diskurse das Bewahrungsgesetz in Verbindung mit eugenischer Asylierung und Sterilisation. Das Gesetz scheiterte letztendlich an der Frage der Persönlichkeitsrechte, der nicht geklärten Kostenfrage und vor allem an seiner engen Anbindung an die parallel diskutierte Strafrechtsreform, die aufgrund der instabilen parlamentarischen Verhältnisse zu keinen Resultaten führte.
Mit dem Machtantritt des Nationalsozialismus lichteten sich nicht nur die Reihen der Bewahrungs(-gesetz)-Befürworter - die Protagonisten aus dem linken Lager wurden aufgrund ihrer jüdischen Herkunft oder ihrer politischen Einstellung verfolgt -, auch die bisherigen politischen Einflussmöglichkeiten der nicht verbotenen Wohlfahrtsverbände und Interessensgemeinschaften wurden beschnitten. Das hielt die übrig gebliebenen Verfechter nicht davon ab, die Forderungen nach einem Bewahrungsgesetz zur eigenen Profilierung aufrechtzuerhalten, nun allerdings mit eindeutig rassenhygienischen Umdeutungen versehen. Als erste Neuregelungen im Jahr 1933 ermöglichten das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" und die "Maßnahmen der Sicherung und Besserung"(§ 42 STGB) nun eine unbefristete Arbeitshauseinweisung auf juristischem Wege. In der Konkurrenz zwischen Fürsorge, Polizei und Justiz um die "Asozialenfrage" gab die nationalsozialistische Lösung der so genannten polizeilichen Prävention und Verfolgung den eindeutigen Vorrang. Nach Willing war die ab 1939 versuchte rechtliche Absicherung der "vorbeugenden Verbrechensbekämpfung" mit dem geplanten "Gemeinschaftsfremdengesetzes" zwar ein eindeutiger Bruch mit den Inhalten und Zielen der nun endgültig gescheiterten Bewahrungsgesetzbestrebungen. Erschreckend deutlich wurde aber zugleich die Akzeptanz gegenüber der Radikalisierung der Verfolgung von "Asozialen" bei den traditionellen Fürsorgekreisen.
In der unmittelbaren Nachkriegszeit beschworen die alten Verfechter angesichts der verbreiteten Notlage das wachsende "Asozialenproblem" und starteten erneute Versuche für die (Teil-)Realisierung eines Bewahrungsgesetzes. Die rassenhygienischen Einflüsse wurden allerdings getilgt. Doch die westlichen Besatzungsmächte lehnten die fürsorgerische Bewahrung mit dem Verweis auf ihren antidemokratischen Charakter ab. In der SBZ und in der späteren DDR war das Bewahrungsgesetz kein Thema, dafür sicherte die Übernahme des § 42 (nach dem in Kraft gebliebenen Strafgesetzbuch) Arbeitszwang und damit den behördlichen Zugriff auf die "asozialen" Bevölkerungsgruppen. In der Bundesrepublik bestanden die Möglichkeiten der Arbeitshausunterbringung sowohl nach § 42 StGB als auch nach § 26 des Bundessozialhilfegesetzes weiter. Ein diesmal von der CSU und dem Zentrum gefordertes Bewahrungsgesetz scheiterte schließlich am Grundgesetz. Zwar wurde es in einer sehr reduzierten Form innerhalb des § 73 Bundessozialhilfegesetz im Jahr 1962 realisiert, aber letztendlich kaum angewandt. Bereits fünf Jahre später kam das Bundesverfassungsgericht zu dem Urteil, dass die "Zwangsunterbringung von Gefährdeten" als verfassungswidrig anzusehen sei.
Willing gelingt es, sowohl aus rechts- als auch aus sozialgeschichtlicher Perspektive eine wichtige Forschungslücke zu schließen. Bisher war die Debatte um das Bewahrungsgesetz nur in Hinblick auf fürsorgerische Einzelbereiche bekannt und die Weiterführung ab 1945 noch unerforscht. Die Studie ermöglicht wichtige Einblicke in Konzepte und Motivlagen der Fürsorgeexperten und arbeitet deutlich den im Gesetzesvorhaben selbst begründeten Widerspruch zwischen reformorientierten Ansätzen und dem Rückgriff auf repressive, die eigene Klientel entwertende Sichtweisen heraus, die letztendlich einem demokratisch verfassten Sozialstaat entgegenstanden. Dass dies in den Reihen der "Sozialreformer" nicht oder zu spät erkannt wurde, erwies sich als blinder Fleck, der das Einfallstor für rassenhygienische Einflüsse nur noch größer machte und in direkter Linie zu einer breiten Akzeptanz der nationalsozialistischen Asozialenpolitik führte. Sehr interessant sind die dargestellten Zusammenhänge zwischen Strafrechtsreform und Bewahrungsgesetz. Doch hier hätte sich ein inhaltlicher Vergleich der Grundgedankens der strafrechtlichen Reformvorhaben mit der fürsorgerischen Reformidee angeboten, die beide statt der Tat bzw. des "devianten Verhaltens" nun die Motiv- und "Charakterlage" des "Täters" bzw. des "Asozialen" zum Maßstab nehmen wollten. Dies hätte eine Problematisierung der inhaltlichen Reform-Kategorien ermöglicht und die These der konzeptionellen Kontinuitäten argumentativ untermauert.
Etwas mehr Aufschluss hätte man sich auch über die Bewahrungspraxis gewünscht, die, wie der Autor darlegt, auch ohne Gesetz praktiziert wurde: schon in der Weimarer Zeit - hier verweist Willing auf ein geltendes sächsisches Bewahrungsgesetz auf der Grundlage des Entmündigungsverfahrens; dann in der Zeit des Nationalsozialismus - hier war das Zwangsfürsorgemodell des bayerischen Landesverbandes für Wander- und Heimatdienst gegen Obdachlose, Wanderer, "asoziale" Frauen und Fürsorgezöglinge sogar Grundlage für eine erste Gesetzesvorlage für ein Gemeinschaftsfremdengesetz -, und schließlich später in der Bundesrepublik. Doch ist dies kein Vorbehalt gegenüber Willings Arbeit, sondern beweist nur das Potenzial der Studie, in diesem Sinne weiterführende Forschungsarbeiten anzustoßen.
Matthias Willing: Das Bewahrungsgesetz (1918 - 1967). Eine rechtshistorische Studie zur Geschichte der deutschen Fürsorge (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts; 42), Tübingen: Mohr Siebeck 2003, XII + 447 S., ISBN 978-3-16-148204-5, EUR 59,00
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