Die Geschichte des deutschen Bürgertums hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten viel Aufmerksamkeit erfahren, wobei auch die christlich-konfessionellen Milieus innerhalb dieser Sozialformation in einigen Studien untersucht worden sind. Die deutsch-jüdische Minderheit, die im 19. Jahrhundert mehrheitlich einen geradezu paradigmatischen Verbürgerlichungsprozess durchlaufen hat, ist dagegen bis heute weniger Gegenstand der Forschung. In den 1990er-Jahren war es vor allem eine Gruppe von jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, von denen viele ihre Erkenntnisse in zahlreichen, von der Deutschen Arbeitsgemeinschaft des Leo Baeck Instituts organisierten Doktorandenkolloquien unter Leitung von Reinhard Rürup austauschten, welche die historische Entwicklung der deutschsprachigen Juden mit der Bürgertumsforschung verband. Simone Lässigs Studie - eine deutlich gekürzte und überarbeitete Fassung ihrer Habilitationsschrift an der Technischen Universität Dresden - ist eine der interessantesten und mit Sicherheit umfangreichsten Arbeiten aus diesem Kontext.
Lässig geht darin vor allem der Frage nach, wie sich das jüdische Bürgertum in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhundert formierte und warum sich gerade in Deutschland ein modernes und plurales Judentum entwickelte, das andere jüdische Gemeinschaften international befruchtet hat. Sie begreift dabei die innerjüdische Entwicklung nicht nur aus sich selbst heraus, sondern als Teil eines umfassenderen Modernisierungsprozesses und arbeitet vor allem die starken Verbindungen zwischen den drei Feldern der Verbürgerlichung heraus: dem politisch-rechtlichen, dem sozial-ökonomischen und dem kulturell-religiösen, wobei Letzteres klar im Zentrum der Arbeit steht. Das jüdische Schulwesen, Religion und Kultus sowie die Herausbildung einer deutsch-jüdischen Öffentlichkeit sind die von Lässig thematisch hervorgehobenen Medien der Verbürgerlichung. Sie verwendet in ihrer Analyse in produktiver Weise den Bordieu'schen Habitusbegriff und dessen Konzeption vom konvertierbaren kulturellen Kapital. Allerdings beschränkt sie sich keineswegs auf diesen Ansatz, sondern verbindet ihre Erörterung der jüdischen Transformation mit einem breiten sozial- und vor allem kulturhistorischen Zugriff auf die Problematik der Modernisierung. Dabei vermag sie schlüssig herauszuarbeiten, dass dem zielgerichteten Streben nach "Bürgerlichkeit" im jüdischen Emanzipationsprozess eine herausragende Bedeutung zukam. Geografisch konzentriert sich die Studie auf die bislang unbearbeitete Entwicklung der jüdischen Emanzipation in Sachsen und Anhalt-Dessau, bettet die dort gewonnenen Ergebnisse aber immer wieder in einen gesamtdeutschen Kontext ein. Besondere Beachtung verdient, dass Lässig sich nicht von den mittlerweile überholten aber immer noch prägenden Begriffen der Assimilation oder Akkulturation leiten lässt und auch keineswegs eine "Minderheitengeschichte" schreibt.
Durch die Analyse einer Reihe von teilweise bislang wenig benutzen Quellen, wie beispielsweise Predigten, Subskriptions- und Pränumerationsverzeichnissen von jüdischen Druckerzeugnissen oder regionalen Schulakten, weist Lässig nach, dass der kulturellen Verbürgerlichung eine weit größere Bedeutung zukam als bisher angenommen. Es gelingt ihr herauszustellen, dass die private Praxis bürgerlichen Lebens und Verhaltens - darunter beispielsweise auch die bislang fast völlig unbeachtet gebliebene Feminisierung jüdischer Kultur - viel stärker in den Blick der Forschung genommen werden muss als bisher. Ob diese kulturelle Dimension allerdings, wie Lässig postuliert, tatsächlich im Zentrum des Emanzipationsdiskurses stand, ist jedoch in der Forschung umstritten.
Das fünfundvierzigseitige Literaturverzeichnis der Studie liest sich wie eine Gesamtbibliografie zur deutsch-jüdischen Geschichte und zur Bürgertumsforschung. Hier, wie auch in den deutlich über 2500, meist längeren Fußnoten zu 660 Textseiten, wird das Bemühen der Autorin deutlich, sämtliche Aussagen erschöpfend zu belegen und nach allen Seiten abzusichern. Einerseits demonstriert Lässig dadurch ungeheuren Fleiß und große Detailkenntnis, andererseits schränkt sie die Lesbarkeit ihrer ansonsten spannend geschriebenen Studie ein wenig ein. Schließlich wird die europäische Dimension des jüdischen Verbürgerlichungsprozess von Lässig in Einleitung und Fazit herausgestrichen, in der Analyse aber nicht weiter verfolgt. Gerade hier scheint sich Raum für weitere, vergleichend angelegte Arbeiten zu ergeben, die den soziokulturellen und ökonomischen Transformationsprozess, den die Juden im 19. Jahrhundert durchmachten, noch stärker auf ihre spezifischen Lebensbedingungen rückführbar machen würden.
Ungeachtet dieser Detailkritik handelt es sich hier zweifelsfrei um einen herausragenden Beitrag zur deutsch-jüdischen Geschichte und zur Bürgertumsforschung, der methodisch innovativ und sauber arbeitet und viele Bereiche der Forschung befruchtet.
Simone Lässig: Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert (= Bürgertum. Neue Folge. Studien zur Zivilgesellschaft; Bd. 1), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, 784 S., 40 Tabellen, 18 Diagramme, ISBN 978-3-525-36840-4, EUR 69,00
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