Konrad Beischl: Dr. med. Eduard Wirths und seine Tätigkeit als SS-Standortarzt im KL Auschwitz, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, 266 S., ISBN 978-3-8260-3010-9, EUR 29,80
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Dem Thema "Medizin im Nationalsozialismus" wird seit den 1980er-Jahren großes (medizin-) historisches Interesse entgegen gebracht. Davon zeugt eine mittlerweile kaum mehr zu überschauende Forschungsliteratur, in der es um die Gründe für die führende Rolle von Medizin und Ärzten in der nationalsozialistischen Selektions- und Vernichtungspolitik geht. Bei dieser Ursachenforschung wurden bisher hauptsächlich ideen- und institutionengeschichtliche bzw. wissenschaftshistorische Forschungsansätze verfolgt. Ausnahmen bildeten dagegen biografische Studien, in denen die - gerade auch für Nichtfachleute interessante - Frage, warum Ärzte zu Mördern wurden, am Beispiel einzelner Euthanasie- und Konzentrationslagerärzte untersucht wurde. Große Bedeutung kommt daher der Studie des Arztes und Medizinhistorikers Konrad Beischl über Eduard Wirths zu, den Standortarzt von Auschwitz.
Mit Eduard Wirths, der von 1942 bis 1945 - und damit weit länger als jeder seiner fünf Amtsvorgänger [1] - Standortarzt des größten Konzentrations- und Vernichtungslagers im deutschen Machtbereich war, hat Beischl einen der wichtigsten ärztlichen Direkt-Täter als Forschungsobjekt gewählt. Denn als Standortarzt war Wirths nicht dem Lagerkommandanten unterstellt, sondern der zum Wirtschaftsverwaltungshauptamt der SS gehörenden Inspektion der Konzentrationslager ("Amt D"), was ihm eine relative Autonomie im Dienst gewährte. Er war Vorgesetzter aller anderen SS-Ärzte und Sanitäter im Lager; er war zuständig für die medizinische Versorgung der Häftlinge sowie die ärztliche Betreuung der SS-Angehörigen mit Familien; er war verantwortlich für die Selektionen an der so genannten Rampe und im Lager, für die Beschaffung des Giftgases Zyklon B sowie für die Ermordung der Selektierten inklusive der Aufsicht über den Vernichtungsvorgang.
1909 als Sohn eines Unternehmers in Würzburg geboren, begann Wirths 1930 ein Studium der Medizin. Nach dem Machtantritt Hitlers schloss sich der in rechtsradikalen Kreisen verkehrende Student fast umgehend der NSDAP an, 1934 wurde er Mitglied der SS. Hintergrund dürfte die Übereinstimmung mit den "rassenpolitischen" Zielen der NS-Regierung gewesen sein, denn nach dem Studium war er auf eigene Initiative hin einige Zeit in der praktischen "Erb- und Rassenpflege" tätig. Im September 1939 wurde der Mediziner zur Waffen-SS eingezogen und als Truppenarzt eingesetzt, bis er - wegen einer Krankheit "frontdienstuntauglich" geworden - im April 1942 eine Karriere als KZ-Arzt begann. Innerhalb weniger Monate stieg er vom einfachen Lagerarzt in Dachau zum "Ersten Lagerarzt" in Neuengamme und dann zum Standortarzt in Auschwitz auf, wo er von September 1942 bis zur Räumung des Lagers im Januar 1945 blieb. Im September 1945 beging er in britischer Gefangenschaft Selbstmord.
Eine von Wirths' wichtigsten Aufgaben im KZ Auschwitz war die Bekämpfung des dort epidemisch grassierenden Fleckfiebers, das auch die SS-Wachtruppen gefährdete. Dabei war er offenbar recht erfolgreich, wie die für Wirths als Schreiber arbeitenden Häftlinge Hermann Langbein und Karl Lill später berichteten. Waren Gefangene, die sich mit Anzeichen von Fleckfieber im Krankenbau meldeten, zuvor "zur Seuchenbekämpfung" ermordet worden - und der Krankenbau daher von Angesteckten gemieden -, so gebot Wirths diesen Tötungen - Langbein zufolge - umgehend Einhalt. Das habe den Häftlingen die Angst vor dem Krankenbau genommen und den Ärzten die Durchführung von Therapie- und Präventionsmaßnahmen ermöglicht. Auch gegen die "verschleierten Exekutionen" der Politischen Abteilung, bei denen spezielle Häftlinge heimlich hingerichtet und dann als "durch Krankheit verstorben" von der Lagerstärke abgesetzt wurden, sei Wirths vorgegangen. Zur Verbesserung der medizinischen Versorgung im Lager habe er den Ausbau der sanitären Einrichtungen vorangetrieben und gezielt inhaftierte Ärzte zur Arbeit im Krankenbau herangezogen. Bis zum Jahresende 1943 habe er 93.000 Häftlingen das Leben gerettet, wie Langbein und Lill berechneten.
Den genannten Bemühungen Eduard Wirths' stehen andere Aktivitäten des Standortarztes gegenüber, die Beischl etwas unbedarft als "nicht-ärztliche Tätigkeiten" (92) bezeichnet: die direkte und indirekte Mitwirkung an der Selektion und Ermordung hunderttausender Häftlinge, die ärztliche Überwachung von Körperstrafen und Exekutionen, die fachliche Leitung und eigenständige Durchführung medizinischer Experimente am Menschen. Wirths selbst sah die Auswahl der zu Tötenden durchaus als eine ärztliche Aufgabe an, den Einfluss von Nichtmedizinern auf diese Selektionen drängte er zurück. Er machte entsprechende Dienstpläne, selektierte selbst und führte ihm unterstellte SS-Ärzte eigens in die Tätigkeit an der Rampe ein. In Block 10, dem "Experimentierblock" des Lagers, machte er sich weiterer medizinischer Verbrechen schuldig: Nach den Aussagen ehemaliger Häftlinge und anderer SS-Ärzte führte er dort in eigener Regie Versuche zur Früherkennung von Gebärmutterkrebs durch und erprobte in Zusammenarbeit mit der pharmazeutischen Industrie neue Impfstoffe und Medikamente an Häftlingen. Als ranghöchster Mediziner von Auschwitz trug Wirths zudem Verantwortung für die von anderen Ärzten im Lager durchgeführten Experimente. Völlig zutreffend kommt Beischl daher zu dem Ergebnis, dass Wirths "zu den größten Massenmördern der NS-Zeit" (218) zählte.
Ein sehr anderes Bild von dem Standortarzt zeichneten dagegen Langbein und Lill, deren Erinnerungsberichte - Beischls Vorwort zufolge - immerhin die "Hauptquelle" (13) der hier besprochenen Arbeit waren: Danach wirkte Wirths nur widerwillig am Genozid mit, blieb einzig deshalb in Auschwitz, um "Schlimmeres" zu verhüten, war ein humaner und engagierter Arzt (passim). Diese Sicht der beiden ehemaligen Häftlinge, die Wirths bereits aus seiner Dachauer Zeit kannten und die von ihm in Auschwitz schnell begehrte Posten im Krankenbau erhielten, gleicht auffällig der Selbstwahrnehmung jenes Arztes, die in dessen "Rechtfertigungsschrift" zum Ausdruck kommt (abgedruckt im Anhang, 237-251). Das dafür wahrscheinlich maßgebliche, komplizierte und mitunter gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis zwischen SS-Tätern und (meist deutschen) Funktionshäftlingen wird von Beischl leider ebenso wenig thematisiert wie die Entstehungsgeschichte und Bedeutung der kommentarlos in voller Länge wiedergegebenen "Rechtfertigungsschrift".
Zu kritisieren bleibt, dass Beischl die jüngere zeitgeschichtliche Forschungsliteratur kaum rezipiert hat. In der Folge tradiert er z. B. die mittlerweile als ausgesprochen zweifelhaft geltende Darstellung von Hans Münch als einzigem "guten", sich der Selektion konsequent verweigernden SS-Arzt (98-99) [2] und überschätzt an mancher Stelle die Rolle Wirths' bei den - aus einem grundlegenden Funktionswandel der Konzentrationslager nach dem Scheitern des "Blitzkriegskonzepts" resultierenden - Versuchen ab Ende 1942, die Lebensbedingungen in den Lagern zu verbessern. [3] Außerdem wünscht man sich bisweilen einen präziseren Umgang mit den Quellen.
Dennoch ist Beischl ein gut lesbares und recht eindruckvolles Buch gelungen, dessen Stärke vor allem in der plastischen Schilderung des "medizinischen Alltags" in Auschwitz anhand von Häftlingserinnerungen liegt.
Anmerkungen:
[1] A. Lasik: Die Organisationsstruktur des KL Auschwitz, in: Wacław Długoborski / Franciszek Piper: Auschwitz 1940-1945. Studien zur Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, Bd. I, Oświęcim 1999, 165-320, hier 283-287.
[2] Vgl. Carola Sachse: Die Verbindung nach Auschwitz. Biowissenschaften und Menschenversuche an den Kaiser-Wilhelm-Instituten, Göttingen 2003, 24-25.
[3] Hierzu grundlegend: Wolfgang Sofsky: Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager, Frankfurt a. M. 1993, bes. 193-213. Aus der rezenteren Forschung: Bernd C. Wagner: IG Auschwitz. Zwangsarbeit und Vernichtung von Häftlingen des Lagers Monowitz 1941-1945, München 2000; Jan Erik Schulte: Zwangsarbeit und Vernichtung: Das Wirtschaftsimperium der SS. Oswald Pohl und das SS-Wirtschaftsverwaltungshauptsamt 1933-1945, Paderborn u.a. 2001; Hermann Kaienburg: Die Wirtschaft der SS, Berlin 2003.
Astrid Ley