Was haben das DNS-Modell von James Watsons und Francis Crick aus dem Jahr 1953, der primitive Elektromotor, den Michael Faraday 1821 präsentierte, und ein Beugungsgitter-Spektrometer, wie es ab Ende der 1930er-Jahre zur schnellen und präzisen chemischen Analyse entwickelt wurde, gemeinsam?
In allen drei Fällen handelt es sich um Beispiele für materiales, an konkrete Dinge und Instrumente gebundenes Wissen, das sich nicht seiner Materialität entkleiden und deshalb nicht auf Theorien und wissenschaftliche Aussagen reduzieren lässt. In "Thing Knowledge" argumentiert Davis Baird überzeugend, dass sich wissenschaftliche Instrumente philosophisch nur dann hinreichend begreifen lassen, wenn sie nicht als nachträgliche Materialisierungen einer epistemologisch vorgängigen Theorie, sondern als epistemisch gleichberechtigt angesehen werden. Dinge wie wissenschaftliche Modelle oder Instrumente verdanken sich anderen Verfertigungs- und Handlungsweisen als Theorien und wissenschaftliche Aussagen und eröffnen damit genuine, epistemologisch relevante, ja oftmals entscheidende Zonen wissenschaftlichen Handelns.
Baird beginnt seine "materiale Epistemologie" mit der Kraft des Faktischen, dem unabweisbaren In-die-Welt-Setzen eines Phänomens aus der Dingwelt des Experimentierens. Faraday hatte keine bzw. keine hinreichende Theorie des Elektromotors, aber in seiner Versuchsanordnung provozierte Elektrizität eine kreisende Bewegung.
Experimentieren ist eine Phänomenotechnik, könnte man mit Gaston Bachelard sagen. Das ist der Ausgangspunkt von Bairds "Philosophie wissenschaftlicher Instrumente". In einem ersten Schritt unterscheidet er dann drei Typen materialen, an Instrumente geknüpften Wissens: Modelle (wie das der DNS) sind Repräsentationen wissenschaftlicher Gegenstände und Theorien, aber gleichwohl epistemisch eigenständig, weil sie solchen Theoretisierungen vorausgehen beziehungsweise völlig neue Aspekte eröffnen können. Bei dem zweiten Typ von Instrumenten steht die Generierung wissenschaftlicher Phänomene ganz im Vordergrund, sie veranschaulichen, was Baird "working knowledge" nennt. Die Teilchen-Beschleuniger immer größerer Dimensionen zum Beispiel, die Ernest O. Lawrence ab 1930 in Berkeley baute, brachten nicht nur eine Vielzahl unvorhergesehener und prinzipiell unvorhersehbarer "technischer", materialer Probleme beim Übergang auf eine nächst größere Stufe. Zusammen mit unerwarteten Problemen generierten die jeweiligen Stufen des Zyklotrons zugleich auch eine Vielzahl neuer Phänomene, deren gezielte Erforschung dann zum Gegenstand weiterer Basteleien am Instrument wurde. Der dritte Typ materialen Wissens ist das wissenschaftliche Messinstrument. Als "encapsulated knowledge" vereint es Aspekte eines Modells - der Messstandard, der zum Einsatz gebracht wird - mit dem Fertigungswissen der Phänomenotechnik. Hier ist Bairds Beispiel das Beugungsgitter-Spektrometer, das seit Ende der 1930er-Jahre chemische Analysen revolutionierte.
Aus den Fallstudien zum Spektrometer, die wesentliche Kapitel dieses Buches anleiten, folgen Bairds stärkste Argumente und Überlegungen. Das hat einen ebenso einfachen, wie überzeugenden biografischen Grund: Sein Vater Walter Baird hatte 1936 jene Spektrometer-Firma gegründet, die wenig später das erste Gerät mit direkter Ableseskala der in der Probe gefundenen Metallwerte auf den Markt brachte. Sohn Davis kann nicht nur auf reichhaltiges, größtenteils privates Quellenmaterial zurückgreifen, seine besondere Nähe zum gewählten Gegenstand spiegelt sich auch in der Reflexionsschärfe, mit der Baird (Junior) Spezifika der Instrumentenentwicklung, gewissermaßen die Berufung zum Ingenieur, philosophisch einholt.
Am überzeugendsten ist das Buch, wo Baird auf dieser Grundlage seine Schlüsse zieht. In der Entwicklung hochgradig fortgeschrittener Messinstrumente wie zum Beispiel jener Spektrometer, in die ganze Sets theoretischer Vorannahmen, multidisziplinärer Vorkenntnisse sowie technischer Verfeinerungen Eingang gefunden haben, sieht er eine entscheidende Zäsur der Wissenschaften in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Messen wurde hier zu einer eigenen Wissenstechnik, die kaum eine Fachwissenschaft unberührt gelassen hat. Gleichwohl passt diese Revolution nicht in das Kuhn'sche Modell einander ablösender Paradigmen, war ihr doch weder eine Krise vorausgegangen noch eine wesentliche Neuorientierung wissenschaftlicher Theorien gefolgt. Statt mit Kuhns Modell ließe sich die Entwicklung von "Dingwissen" deshalb besser mit dem von Lorenz Krüger und Ian Hacking geprägten Konzept einer "big revolution" beschreiben. Die große Revolution der Entwicklung von zu Messinstrumenten geronnenem Dingwissen markiert gleichwohl nicht einfach einen Fortschritt hin zu immer umfassender kontrollierten und damit sichereren Messverfahren. Vielmehr korreliert ihr eine komplexe, in epistemischer wie in sozialer Hinsicht weit reichende Umorientierung, denn sie lässt sich als Steigerungsform in jene von Lorraine Daston und Peter Galison beobachtete Geschichte der Objektivität eintragen. Die Instrumentelle Objektivität der automatisierten Analyseverfahren degradiert Menschen zu Knöpfchendrückern.
Das wird spätestens dann zum Problem, wenn der Abstand zwischen der Konstruktion von Messinstrumenten und ihrer Anwendung zu groß wird, wie Baird in einem abschließenden Kapitel über moderne medizinische Bildgebungstechniken und die Unverzichtbarkeit einer Geschenkökonomie des Wissens darlegt. Kaum ein Arzt kennt heute die technischen Details, die in die Kernspintomografie eingegangen sind, gleichwohl werden mittlerweile viele medizinische Entscheidungen von dieser Technik abhängig gemacht. Das führte nicht nur immer wieder zu folgenschweren Fehldiagnosen, sondern auch zu dem bezeichnenden Kuriosum, dass eine Firma eine Zeit lang als besondere Visualisierungsfunktion die Bildwiedergabe gemäß einem mittlerweile als verfälschend erkannten Berechnungsverfahren anbot, weil offensichtlich die betroffenen Ärzte sich so an diese Bilder gewöhnt hatten, dass die Firma hierin einen Marketingvorteil vermutete. An Beispielen wie diesem lässt sich paradigmatisch die zunehmende Verdinglichung und Kommerzialisierung von Wissen verfolgen.
Weniger überzeugend ist Bairds Buch, wo es kaum mehr als einen verspäteten Anschluss an wissenschaftshistorische Debatten dokumentiert. Dass es "epistemische Dinge" gibt und bastelndes Experimentieren neue Phänomene erzeugt, ist keine so neue Entdeckung, wie uns Baird glauben machen will. Bachelards Studien reichen selbst in jene Zeit zurück, die Baird hier als Revolutionsperiode charakterisiert. Obwohl er Hans-Jörg Rheinberger im Vorwort nennt, scheint er dessen einschlägige Studien hierzu nicht zu kennen, wenigstens diskutiert er sie an keiner Stelle. Auch die Zeit zwischen der Erstveröffentlichung so mancher Kapitel in Aufsatzform und dem Buch hat manche unnötige Spur hinterlassen beziehungsweise zu eklatanten Leerstellen hinsichtlich neuerer Diskussionen geführt. Gleichwohl handelt es sich um ein überaus konzis und klar geschriebenes Buch, das sein reiches Studienmaterial exakt am Argumentationsgang justiert.
Davis Baird: Thing Knowledge. A Philosophy of Scientific Instruments, Oakland: University of California Press 2004, XXI + 273 S., 47 ill. & tables, ISBN 978-0-520-23249-5, GBP 41,95
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