Insbesondere in den letzten 10 Jahren hat sich das Kunsthistorische Institut in Florenz mit der Kunst des italienischen Ottocento einem Forschungsgegenstand angenähert, der zwar seit 1970 zu den Sammelschwerpunkten des Hauses, aber nicht unbedingt zu den klassischen Feldern der Disziplin gehört. Nach Initiativen zur Reiseliteratur (1998) und zur Kunstgeschichte als Institution (1999) liegen nun also die Akten zu einem viertägigen Kongress vor, den das Institut (7. bis 10. Oktober 2002) der italienischen Malerei im 19. Jahrhundert gewidmet hat. Ziel der Veranstaltung war es, "die Geschichte der italienischen Malerei des 19. Jahrhunderts mit systematischen Fragestellungen auf methodisch breiter Grundlage erneut zu studieren", oder vielmehr Anstöße zur Auseinandersetzung mit einem Themenbereich zu geben, dessen "historische und künstlerische Relevanz gerade im Ausland häufig unterschätzt wird" (siehe dazu das Vorwort von Martina Hansmann und Max Seidel, 13).
Die systematische Erschließung der immens reichen Bestände an Kunst des 19. Jahrhunderts, welche sich in den Kirchen Italiens und den Depots der kommunalen "Gallerie d'arte moderna" regelrecht stapeln, fällt in die Siebzigerjahre, als große Ausstellungen wie "The Age of Neo-Classicism" (1972) die Trendwende in der Bewertung klassizistischer Kunst besiegelten und somit den Weg frei machten für eine differenzierte Betrachtung der bislang wenig geliebten akademischen Malerei. Während die Museumskuratoren sich zunehmend dieser Materialien annahmen und sie dem Publikum schließlich auf Ausstellungen in Florenz (1972), Mailand (1975) und Turin (1980) zugänglich machten, feilte die Forschung an geeigneten kunstwissenschaftlichen Instrumenten, die in den Bänden der "Storia dell'arte italiana" (Torino: Einaudi, 1979-83) veröffentlicht werden konnten. Interessanterweise hat man in diesen Anfangszeiten der Ottocentoforschung die Form der monografischen Darstellung eher gemieden; vielmehr galt es Fragen institutioneller Natur zu klären - zum Ausstellungswesen und dessen kritischer Rezeption, zum Kunstmarkt, sowie zum Akademiewesen - und dazu boten sich neue (im weitesten Sinne sozialgeschichtliche) Interpretationsansätze bei Castelnuovo und Haskell an (siehe dazu Maria Mimita Lamberti, 179-198).
Bekanntlich wurde das politisch und kulturell zersplitterte Italien im frühen 19. Jahrhundert zum Tummelplatz für ausländische Sammler und Kunstagenten, die Kulturgüter wie Bodenschätze förderten, ankauften und meist mit wohl wollender Billigung der Behörden ins Ausland exportierten. Diese Ankaufspolitik beschränkte sich nahezu ausschließlich auf alte Meister und wurde somit zur verdeckten Kriegserklärung an die Zeitgenossen. Von einzelnen Ausnahmen einmal abgesehen (Canova, Hayez, Migliara) galten die modernen Italiener als begabte, aber identitätslose Handwerker, die am Geiste ihrer Vorfahren eigentlich gescheitert und fernab vom großen Kunstzentrum Paris zu keinerlei eigenständiger Produktion gelangt seien (siehe dazu Annegret Höhler, 89-97). Dabei hat sich die zeitgenössische Kunstproduktion in Italien lediglich an den Bedürfnissen des Kunstmarktes orientiert und dessen Strategen wollten von Neuem schließlich nichts wissen. Zwar spielen Begriffe wie Alt, Neu, Original, Nachahmung, Kopie und Fälschung eine bekanntermaßen zentrale Rolle in der kunsttheoretischen Reflexion, andererseits erübrigen sich die begrifflichen Scheidungen angesichts der künstlerischen Praxis einer weitgehend historisierenden Kunst im 19. Jahrhundert. Ulrike Ilgs spannender Aufsatz mit dem vielsagenden Titel "Restaurierung, Kopie, Fälschung: zur Authentizität des Falschen im Ottocento" (367-384) stellt dies sehr überzeugend dar. Das Fälschen, Nach- oder Gleichmachen war vielmehr Gegenstand eines Paragonebegriffs, der auf technischer Virtuosität basierte und gerade daran mangelte es bekanntlich nicht in den italienischen Künstlerwerkstätten. Aus den Biografien berühmter Fälscher wie Icilio Federico Joni, selbst aus den Erinnerungen des sonst so frommen Katholiken Giovanni Duprè geht hervor, wie groß für technisch hervorragend ausgebildete Kunsthandwerker die Verführung sein musste, ahnungslose Sammler mit vermeintlich alten Stücken hinters Licht zu führen. Der produktive Rekurs auf Motive und Techniken "primitiver" Künstler, mit dem sich die Nazarener zu Beginn des Jahrhunderts gegen die normativ geprägten Unterrichtsmethoden der deutschsprachigen Akademien auflehnten, wird durch die in bewusster Täuschungsabsicht handelnden Fälscher mit technischem Können auf die Spitze getrieben: sie entwickeln mittels fotografischer Vorlagen eine der Kennerschaft durchaus vergleichbare Perspektive, aus der es ihnen selbstverständlich erscheint "authentische" alte Meister zu erfinden.
Der Faszination des technischen Fortschrittes können die Künstler sich auch im wenig industrialisierten Italien natürlich nicht entziehen. Allerdings hat die vor allem neoidealistisch geprägte Kunstwissenschaft im 20. Jahrhundert dies nur unzureichend zur Kenntnis nehmen wollen: so wurde der Gebrauch technischer Hilfsmittel vom eigentlich "künstlerischen" Werkprozess strikt getrennt (siehe dazu Erna Fiorentini, 535-557), eher "prosaische" Materialien - vor allem satirische Vignetten - schienen mit Kunst nichts zu tun zu haben und wurden allenfalls zur Bebilderung von Geschichtsbüchern genutzt (siehe dazu Rosanna Maggio Serra, 349-366). Mittlerweile hat man erkannt, wie sich die Quellen künstlerischer Gestaltung durch das Aufkommen von illustrierten Massenmedien multipliziert haben und genau diesem Problem - dem Dialog von Massenmedien und bildender Kunst - widmet sich Michael F. Zimmermann in seiner Studie zu Giuseppe Pelizzas heroisierender Darstellung des Proletariats ("Il Quarto Stato", 1901). Er rekonstruiert die Entstehung und Rezeption des Bildes und verweist auf die widersprüchliche Haltung des Malers, dessen religiöse und fortschrittskritische Ansichten von bürgerlichen Werten durchdrungen sind, mit der Rhetorik des Klassenkampfes also recht wenig im Sinne haben (331-348).
Pelizzas Bild, das durch Exegeten und Reproduktionen zur ideologischen Ikone avancierte, ist ein gutes Beispiel dafür, welche Art von Vorurteilen sich einer ausgewogenen Betrachtung der politisch höchst relevanten Geschichts- und Historienmalerei in den Weg stellen kann. Durch Herausarbeitung des historischen Kontextes lässt sich darstellen, wie ein Auftraggeber (Carlo Alberto di Savoia) mittels Darstellung geschichtlicher Episoden den scheinbar "uritalienischen" Charakter seiner Dynastie betont und somit Ansprüche auf eine zukünftige Führungsrolle innerhalb Italiens bekundet (siehe dazu Eliana Carrara, 201-214). Selbst Friedrich Overbecks für Pius IX. gemalte Darstellung des Christus, der seinen Verfolgern auf wunderbare Weise entflieht (seit 1847) ist im Kontext der politischen Turbulenzen als "Allegorie auf die Beständigkeit des Papsttums und auf den Primat päpstlicher Unfehlbarkeit" zu deuten (siehe dazu Michael Thimann, 268). Im Zuge der Unabhängigkeitskriege versucht die toskanische Übergangsregierung im Jahre 1859 nach schwer erkämpften militärischen Erfolgen die Gunst des Augenblicks zu nutzen und den nationalen Einigungsprozess zu beschleunigen. Martina Hansmann zeigt in ihrem Beitrag über Giovanni Fattori und die zeitgenössischen Ereignisbilder (231-254), wie der Krieg in Schlachtenbildern zum Schlüsselereignis der nationalen Einigung stilisiert werden soll. Dabei müssen die Künstler einerseits der "historischen" Dimension dieser Ereignisse gerecht werden, andererseits durch vereinzelte Gesten der Menschlichkeit eine moralische Legitimation des "gerechten" Krieges liefern. Doch unterscheiden sich Fattoris Schlachten von denen seiner Vorgänger durch ungewohnt realistische Darstellungsweise und gerade dies führt zu einigen Missverständnissen in der kritischen Rezeption seiner Bilder.
Bildende Künste können zur nationalen Identitätsstiftung, aber auch zur gegenseitigen Abgrenzung beitragen: aus Max Seidels Arbeit über Pasquale Villaris Berichterstattung zur Pariser Weltausstellung 1867 geht hervor, wie die Kunst des jungen italienischen Nationalstaates sich selbstbewusst in den Wettbewerb der konkurrierenden Kunstnationen einreiht (387-486). In den ausgestellten Werken von Stefano Ussi, Domenico Morelli und Vincenzo Vela scheint das Bestreben um eine genuin italienische Kunst endlich Ausdruck zu bekommen, allerdings ist gerade Villaris vermittelnde Rezeption symptomatisch für die Auseinandersetzung mit französischen Modellen, welche in den folgenden Jahrzehnten zunehmend intensiver wird (siehe dazu Annie-Paule Quinsac, 487-493).
Fazit: auch wenn einige der beteiligten Wissenschaftler anstatt frischer Gedanken sich eher durch Recycling von bereits Geschriebenem auszeichnen, bieten die vorliegenden Akten doch eine recht gelungene Kombination aus 30 Jahren Forschung, diversen neuen Ansätzen und vielen offenen Fragen, die zur weiteren Beschäftigung mit diesem Thema geradezu einladen. Übrigens erweist sich gerade Annegret Höhlers (auf Grund der Bestände des KHI verfasste) Bibliografie zur italienischen Kunst des 19. Jahrhunderts als sehr gescheites Orientierungsinstrument für zukünftige Untersuchungen (601-677).
Martina Hansmann / Max Seidel (a cura di): Pittura italiana nell'Ottocento (= Collana del Kunsthistorisches Institut in Florenz. Max-Planck-Institut; 9), Venedig: Marsilio Editori 2005, 677 S., ISBN 978-88-317-8667-6, EUR 72,00
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