Führerkulte gehören zu den Phänomenen der Massenmobilisierung im "Zeitalter der Extreme". Dies gilt sowohl für die faschistischen und autoritären Regime als auch in besonderem Maße für die sozialistischen Staaten, zumal dort die Bevölkerung über längere Zeiträume hinweg für das jeweilige Regime gewonnen werden musste. Durch die politischen Kulte, unter denen im vorliegenden Band lediglich Persönlichkeitskulte noch lebender Politiker verstanden werden, wurden die charismatische Herrschaft im Sinne Max Webers begründet und gestärkt sowie die Legitimität der Ideen, Institutionen, kurzum: der kommunistischen Herrschaft geschaffen. Dies gilt nicht nur für die Sowjetunion, sondern in noch viel stärkerem Maße auch für ihre ostmitteleuropäischen und südosteuropäischen Satellitenstaaten, da dort durch den Stalinkult die Sowjetisierung gerechtfertigt und zugleich die jeweilige Parteiherrschaft gestützt werden musste. Jedoch bildeten sich dort auch eigene Führerkulte heraus, die einerseits als "Unterkult" zum sowjetischen Persönlichkeitskult zu sehen sind, die andererseits aber auch einen gewissen Grad an Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit bedeuteten. Obwohl es zum Lenin- und zum Stalinkult schon einige verdienstvolle Studien gibt, ist dieses Phänomen, das die jeweilige politische Kultur maßgeblich prägte, bislang nicht ausreichend und in vergleichender Perspektive noch gar nicht analysiert worden.
Dieses Desiderat greift der vorliegende Tagungsband auf, dessen Autoren in fünfzehn Beiträgen die Führerkulte in Ostmittel- und Südosteuropa sowie in der Sowjetunion untersuchen, auf der mit sechs Beiträgen der räumliche Schwerpunkt liegt. Dies ist auf Grund der Vorbildfunktion der UdSSR bzw. des Stalinkultes dort durchaus gerechtfertigt. Ostmitteleuropäische Führerkulte werden in drei Beiträgen zu Polen und zwei zu Ungarn thematisiert, südosteuropäische in drei Artikeln, was die vorhandenen Forschungslücken deutlich werden lässt. Auf Grund der unterschiedlichen Herangehensweisen ergänzen sich jedoch alle Aufsätze zu einem aufschlussreichen und interessanten Überblick über die Führerkulte vor allem während des Stalinismus. Inhaltlich sind die Beiträge nach einem anregenden einleitenden theoretischen Beitrag (Edward A. Rees) über die verschiedenen Varianten, Vorbedingungen und Funktionen von Führerkulten in insgesamt vier Sektionen untergliedert. Die Erste ist mit drei Beiträgen der Schaffung von Kulten gewidmet, während die vier Beiträge der zweiten Sektion, die sich allesamt auf die Sowjetunion beziehen, die Funktionen von Führerkulten betreffen. Im dritten Abschnitt werden in vier Aufsätzen die Führerkulte an der ostmittel- und südosteuropäischen Peripherie behandelt. Abschließend wird anhand von drei Beiträgen das Dilemma beleuchtet, das die Entstalinisierung in Bezug auf die Persönlichkeitskulte mit sich brachte, wobei es um die Frage nach Veränderung und Kontinuität geht.
Die Ostmitteleuropa betreffenden Beiträge weisen auf bisherige Schwerpunkte in der Erforschung der sozialistischen Führerkulte dieser Region hin: Anhand des Kultes um Matyás Rákosi zeichnet Apor Balázs nach, welche Rolle Biografien bei der Schaffung von Führerkulten spielen, während Árpád von Klimó am Beispiel der Stilisierung von Béla Illés als "sehr bescheidenen Mann" zeigt, wie sehr sich kultische Verehrung und zunehmende politische Karriere bedingen. Die Frage nach den Führerkulten an der Peripherie wirft Jan C. Behrends in seinem den Stalinkult in Polen und der DDR zwischen 1944/45 und 1956 vergleichenden Beitrag auf, während Izabella Main die kultische Verehrung Bolesław Bieruts als einen vom Stalinkult abhängigen, länderspezifischen (Unter-)Kult charakterisiert. Die Folgen der Entstalinisierung in Polen für das vermittelte Bild der Parteisekretäre beschreibt abschließend Marcin Zaremba.
Anhand dieser Beispiele wie auch der anderen in den Band aufgenommenen Beiträge wird deutlich, dass die Führerkulte in den sozialistischen Regimen einerseits durch das überragende Vorbild des Stalinkultes geprägt waren, dass andererseits aber dennoch Raum für spezifische, auf die Bedingungen des jeweiligen Staats abgestimmte Führerkulte vorhanden war, die zwar in einem hierarchischen Verhältnis zum Stalinkult standen und die doch zugleich auch gewisse Verselbstständigungsbestrebungen demonstrierten. Dieser Aspekt wird besonders in dem den Tito- und den Hoxha-Kult beschreibenden Beitrag (Stanislav Sretenović, Artan Puto) deutlich, in dem gezeigt wird, dass durch sozialistische Staaten etablierte Führerkulte nicht unbedingt vom Lenin- und vom Stalinkult abhängen mussten, sondern auch eine eigene Entwicklung zum Ausgleich der Legitimations- und Identitätsdefizite darstellen konnten.
Eine Auswahlbibliografie, die auch zentrale Quellen umfasst, sowie ein Personen- und Sachindex runden diesen gelungenen Tagungsband ab, der sicherlich weitere Impulse zur historiografischen Aufarbeitung der politischen Kulte und damit der politischen Kultur in den sozialistischen Staaten gibt.
Balázs Apor et al. (eds.): The Leader Cult in Communist Dictatorship. Stalin and the Eastern Bloc, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2004, IX + 298 S., ISBN 978-1-4039-3443-7, GBP 50,00
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