In der kunsthistorischen Literatur zum Symbolismus ist eine Episode aus dem Leben Fernand Khnopffs fast zum Topos geworden. Als der schon zu Berühmtheit gelangte belgische Maler einmal in seine Stadt der Kindheit Brügge habe zurückkehren müssen, soll er die Fenster seiner Kutsche mit Vorhängen fest verschlossen gehalten haben, um das seit seiner Jugend unter dem Einfluss von Modernisierung und Industrialisierung veränderte Stadtbild nicht ertragen zu müssen. Gewöhnlich dient diese Erzählung dazu, die Weltabgewandtheit und Urbanitätsfeindlichkeit der symbolistischen Generation zu evozieren. Sharon Hirsh, zunächst vor allem mit einer Reihe von Studien zu Ferdinand Hodler bekannt geworden, hat sich mit der vorliegenden Studie vorgenommen, den Beweis für das Gegenteil zu liefern: "The topic of this book - the shaping of Symbolist artists by urban culture and the views of urban society in Symbolist art - proposes a point of departure for the study of Symbolist images that in the past have been read as the expression of a completely inner world of ideas and ideals." (XIII)
"Symbolist society" und "The de-structured city" (25-102) benennt zeitgenössische Analysen und Kritiken von städtischer Vermassung, Entfremdung und Entindividualisierung sowie deren Resonanzen in der Auffassung symbolistisch orientierter Theoretiker und Künstler. Begrifflicher Referenzrahmen ist hier wie durchgängig in dem Buch Georg Simmels Vorstellung von der modernen Stadt und ihrer persönlichkeitsprägenden Macht. Überzeugung der Symbolisten - belegt mit eindrucksvollen Zitaten unter anderem aus dem schriftlichen Oeuvre van de Veldes und Khnopffs - ist hier, dass die Kunst, anstatt diese Verhältnisse wie die Realisten einfach zu beschreiben, besser daran täte, den Verlust an Schönheit und Tiefe, der mit den beschriebenen Phänomenen einher gehe, mit eigenen Mitteln zu kompensieren. Daneben aber wird nahe liegender Weise auf die urbanen Horrorvisionen eines Munch oder Ensor verwiesen, die einen gewichtigen Teil von deren Lebenswerk ausmachen. Gerade bei Munch wird deutlich, dass neben der ausschließlich individual-psychologisch orientierten Deutung ein Verweis auf die Prägekraft städtischer Erfahrung unverzichtbar scheint.
"Die kranke Stadt" (103-162) zeigt Pathologisierungsstrategien auf, die die Symbolisten auf die Stadt anwenden, und in deren Rahmen sie sich als Opfer wie als Therapeuten gerieren. In einem großen Kapitel über die Darstellung der Frau (The city-woman, or the should-be mother, 162-216) kommt die de-moralisierende Wirkung städtischer Seinsvergessenheit auf weibliche Lebensentwürfe zum Vorschein. Ganz im Horizont eines prä-emanzipativen Frauenbegriffs habe man die Auswirkungen des Molochs Großstadt auf zarte Frauenseelen für besonders durchschlagend gehalten. Die Frau in allen Varianten selbstsüchtiger Degeneriertheit ist ein klassisches Thema symbolistischer femme-fatale-Visionen. Bei Hirsh gerät die gute Mutter der natürlich-dörflichen Lebensgemeinschaft zu einem von den Künstlern entworfenen idealen Gegenbild weiblicher Regeneration.
"City Interiors and Interiority" (217-256) führt künstlerisch verarbeitete Innenräume als kompensatorische Heilsräume für die verfremdete Gegenwart städtischer Öffentlichkeit ein. Die symbolisch-ästhetische Aufladung dieser Innenräume, deren Präsenz in der symbolistischen Kunst ja in der Tat entschieden greifbarer ist als etwa in der impressionistischen, die man als Kunst des Außenraumes begreifen kann, muss als Äquivalent für die Stilisierung von Innerlichkeit verstanden werden. Als radikale Abkehr von der geschäftigen Stadt der Gegenwart wäre dann auch die symbolistische Vision der idealen Stadt zu sehen (The ideal city, the dead City, 217-277). Es ist die stillgestellte, nicht eigentlich tote, im Fall Khnopffs mittelalterliche Stadt, eben die Stadt seiner Kindheit. Und nicht nur in Belgien war dies ein Ambiente, das bis ins späte 19. Jahrhundert hinein die städtische Wirklichkeit ausmachte, genau zu diesem Zeitpunkt aber auch unter massiven architektonischen Modernisierungsdruck geriet.
Bei allem Lob für das teilweise durchaus originelle Material, das von der Verfasserin ausgebreitet wird, bleibt doch ein gewisses Unbehagen am weitgehenden Anspruch der programmatischen Grundthese. Denn dass die Symbolisten genaue Beobachter und Analytiker städtischer Sozialität gewesen seien, schließt ja keineswegs die Eskapismus-Feststellung aus, die die von Hirsh inkriminierte Symbolismus-Forschung ins Zentrum ihrer Interpretationen gestellt hatte. Eskapistische Phänomene im Sinne eines radikalen Rückzuges in die Innerlichkeit - und sei diese auch (fremd oder selbst)-therapeutisch gemeint gewesen - prägen über weite Strecken nämlich auch Hirshs eigenes Symbolismus-Bild. Der innovative Anspruch des Buches muss also doch erheblich relativiert werden. Übrigens wäre die Innovativitäts-Rhetorik zeitgenössischer Wissenschaftsproduktion mal eine eigene Untersuchung wert. Sie ist häufig wohl eher Ausdruck eines wachsenden Konkurrenz-Druckes (oder wahlweise auch: einer wachsenden Selbstverliebtheit) als Beschreibung von Wirklichkeit.
Sharon L. Hirsh: Symbolism and Modern Urban Society, Cambridge: Cambridge University Press 2004, XX + 363 S., ISBN 978-0-521-81096-8, GBP 55,00
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