sehepunkte 6 (2006), Nr. 2

Peter Jahn (Hg.): Triumph und Trauma

Die Moskauer Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der deutschen Kapitulation haben mit Verve den unterschiedlichen Bedeutungsgehalt vor Augen geführt, den postsowjetische Gesellschaften dem sowjetischen Sieg über das nationalsozialistische Deutschland beimessen. [1] Die Diskussionen verweisen auf den hohen Stellenwert der Erinnerungspolitik, die den sowjetischen Sozialismus und seine Nachfolgestaaten nach dem Zweiten Weltkrieg begleitete. Von daher ist es nur zu begrüßen, wenn eine Ausstellung es unternimmt, der interessierten - nicht-russischsprachigen - Öffentlichkeit einen Überblick über "Formen und Funktionen sowjetischer wie postsowjetischer Kriegserinnerung" (7) zu vermitteln. Das deutsch-russische Museum Berlin-Karlshorst ist als eigener Geschichtsort hierfür einfach prädestiniert.

Ein Katalog (und seine Besprechung) können natürlich nur einen Teil der Ausstellungswirklichkeit erfassen: Die Abbildungen in der hochwertigen Ausgabe - mit einer Vielzahl sowjetischer Fotografien und Plakate - vermitteln den Eindruck einer intensiven Rechercheleistung und einer hohen Aussagekraft der Exponate innerhalb der klug gruppierten Themenschwerpunkte. Die Zweisprachigkeit war wohl auch - gutes - Prinzip der Ausstellung selbst und wurde auf hohem Niveau umgesetzt; man muss lange suchen, bis man auf Seite 133 den obligatorischen, sinnentstellenden Übersetzungsfehler findet ("Dank Dir", an Stelle von "Retteten Dich, Moskau") findet.

Den Katalog leiten bekannte Symbole sowjetischer Kriegführung und Erinnerung in Propaganda, Kunst und Denkmälern ein. Im Anschluss daran wird anhand des besonderen Nachkriegsschicksals von Marschall Georgij Konstantinovič Žukov die politische Funktion offiziellen Gedenkens nachdrücklich thematisiert: Der Kriegsheld wurde bereits 1947 von Stalin kaltgestellt. Unter Chruščev avancierte er zum Verteidigungsminister, bevor er 1957 wegen "Bonapartismus" erneut in Ungnade fiel. Den Rang einer erinnerungspolitischen Ikone, den Žukov in Russland bis heute einnimmt, errang er erst unter Brežnev.

Nach diesem thematischen Gesamtaufriss nimmt der Katalog die Gesamtbedeutung des Kriegs für (post-)sowjetische Erinnerungen konkreter in Augenschein. So ist den im besetzten Berlin fotografierten Rotarmisten mitunter mehr Erleichterung als Siegesstolz anzusehen. Die zerstörte Hauptstadt mit den niedergeschlagenen Gefangenen setzte nicht nur in der Propaganda, sondern auch in der Alltagsrealität einen deutlichen Kontrapunkt. Die ganze Bedeutung dieser Bildfolgen wird unterstrichen, indem die Kriegsbilanz visualisiert wird: Der nationalsozialistische Eroberungs- und Vernichtungskrieg ließ Leichen, Witwen und Witwer, Waisen, Invalide, Ruinen und Zerstörung zurück - die Sieger waren immer auch Überlebende, Hinterbliebene, und/oder Heimatlose. Der stalinistische Staat hat alles getan, um diese individuelle bzw. gesellschaftliche Dimension des Kriegs in den Hintergrund zu drängen: Der 9. Mai blieb nur für zwei Jahre arbeitsfreier Feiertag, und Stalin setzte die Zahl der Kriegstoten wider besseres Wissen auf "nur" sieben Millionen fest. Die Heimkehrer von der Front wurden wie die darbende Zivilbevölkerung zu neuen Anstrengungen im Wiederaufbau getrieben, ehemalige Kriegsgefangene sowie "Ostarbeiter" als potenzielle Verräter diffamiert und nicht selten verfolgt. Die Restalinisierung erfasste alle Bereiche von Innen- und Außenpolitik - "Stalin - Dank!" presste ein Auftragsplakat 1946 die Vergangenheit in eine zeitgemäße Kurzformel (83).

Die Destalinisierung erhob die Partei aufs Siegerpodest, wo sie aus Gründen der Legitimation bis 1991 auszuharren suchte. Außenpolitisch galt der "sowjetische" Sieg gegen Hitler-Deutschland nicht nur als Beweis der Überlegenheit des eigenen Systems, sondern zugleich als Abschreckung gegen die neuen Feinde. Auch Gorbačev mochte sich nur zögernd von der einseitigen Instrumentalisierung des Kriegs für Parteigeschichte und -herrschaft verabschieden. Sie musste erst mit dem Ende der UdSSR endgültig gesellschaftlichen und nationalen Gegenentwürfen ihren Platz überlassen. Heute reklamiert offenbar die russische Führung den größten Teil des immer ausschließlicher nur positiv ausgedeuteten Erbes des Sieges der stalinistischen UdSSR für sich. Dabei versucht sie ihrerseits, die alte Tradition für neue staatliche Zwecke zu nutzen (78-91, 186-193). Heute wie früher kommt einer politischen Instrumentalisierung natürlich der Umstand zu gute, dass die Erinnerung an den Krieg überhaupt einem tiefen Bedürfnis der Bevölkerung entgegenkommt (144-185, 194-201).

Die Ausstellung nähert sich politischer Instrumentalisierung und gesellschaftlicher Eigenleistung in drei wesentlichen Formen von Erinnerung an: den "Monumenten des Krieges", der "Kriegsfotografie" (und ihrer Veröffentlichungsgeschichte) sowie der "Helden"-Darstellung bzw. Heroisierung. Diese Nahaufnahmen können das - allerdings arg begrenzte - Zusammenspiel gesellschaftlicher sowie staatlicher Anliegen in der Erinnerung beleuchten und weit verbreitete Periodisierungsschablonen etwas relativieren: So war es Chruščev, der bereits 1957 auf den Bau der berühmten Anlage auf dem Volgograder Mamai-Hügel drängte (102). Sie wurde erst 1967 fertig gestellt und korrespondierte in ihrer Endgestalt mit den Großanlagen der Brežnev-Ära. Daneben gab es natürlich immer auch weniger pompöse Stätten, - ein paar - Denkmäler für zivile Opfer deutscher Besatzungsherrschaft (112-121), ehrliche Kriegsfotografien (131) oder unkonventionell-kritische künstlerische Darstellungen (181-185). Doch können diese Beispiele nicht darüber hinweg täuschen, dass in der sowjetischen Erinnerungskultur dem offiziellen Deutungs- und Gestaltungsanspruch auf Kosten gesellschaftlicher oder individueller Bedürfnisse sowie zu Lasten der historischen Wahrheit im Ganzen absoluter Vorrang eingeräumt wurde. Bekanntermaßen hatte nicht nur der Schriftsteller Viktor Astaf'ev "an einem völlig anderen Krieg teilgenommen" als an dem, den die zwölfbändige "Geschichte des Zweiten Weltkrieges" der Brežnev-Ära beschrieb (1988). [2] Gerade in Russland bleibt das erinnerungspolitische Verhältnis von Staatsräson und Zivilgesellschaft ambivalent. An das Schicksal der mehreren Hunderttausend sowjetischen Strafsoldaten etwa wagte sich das russische Fernsehen heran, aber erst 2004 (207).

Der genannte Gesamtbefund geht in den erläuternden Begleittexten leider etwas unter. Dass die UdSSR nach dem Krieg und trotz der Hungersnot 1946/1947 aus politischen Gründen noch Getreide exportierte, ist auch für die erinnerungspolitische Instrumentalisierung des Kriegs symptomatisch und hätte für eine eindeutigere Charakterisierung der Nachkriegsjahre genutzt werden können (64). Die langfristig unvereinten Interessen von Staat und Volk wurden schließlich im Umgang mit Verstorbenen und Vermissten deutlich: Im letzteren Fall mussten sich Angehörige noch in den 1980er-Jahren mit Pappschildern unter Veteranen mischen, um eventuell Nachrichten über engste Anverwandte zu erhalten. Die Bergung und Bestattung der im eigenen Land Gefallenen erhielt erst Anfang der 1990er-Jahre aus privater Initiative heraus wirklich Auftrieb - dass die UdSSR im Archiv des Verteidigungsministeriums (in Podol'sk) umfangreiche Aktenbestände zu verstorbenen sowjetischen Kriegsgefangenen unter Verschluss hielt, passt zu diesem katastrophalen Umgang der Sowjetmacht mit ihren Bürgern. Daher reichte es auch nicht aus, dass die "Dringlichkeit einer medizinischen Betreuung von zwei Millionen Kriegsinvaliden" "früh" erkannt wurde (60). Man kümmerte sich erst ab 1956 ansatzweise um ihre besonderen Nöte (63), und die Literaturnaja Gazeta beschrieb noch 45 Jahre nach Kriegsende die "schwierige soziale Lage", unter der jenseits aller offiziellen Ehrenbezeugungen und Lippenbekenntnisse alle Veteranen leiden mussten (203).

Diese Widersprüche hätten es sicherlich verdient gehabt, deutlicher verbalisiert zu werden. Ähnliches gilt für mögliche Auseinandersetzungen zwischen ehemaligen Partisanen und Frontsoldaten um den jeweiligen Anteil an Sieg und Deutungskompetenzen [3], oder für die in der UdSSR unterbelichtete Rolle der rund 800.000 Frauen in der Roten Armee (ein Foto auf 156). Und dieser Wunsch betrifft Themenkomplexe, die in sowjetischen Produktionen aller Art naturgemäß nicht präsentiert wurden: Die Einebnung des Holocaust wird zusammen mit dem spezifischen Schicksal von GULag-Insassen oder deportierten Völkern unter der Rubrik "Vergessene" Opfer" angerissen (198-201), aber nicht weiter in ihrer historischen Bedeutung benannt. Massendeportationen des NKVD-MVD oder Besatzungsverbrechen der Roten Armee ab 1944/45 in den sowjetisch besetzten Gebieten lassen sich möglicherweise noch unter der Chiffre Katyn' fassen. Sie waren aber natürlich Kriegsgeschehen, das in den demonstrativen Denk- und Siegesmälern, die bald nach 1945 im neuen Einflussgebiet entstanden, nicht thematisiert wurde. Ähnlich stand es um die Bürgerkriege in der Westukraine, die Kämpfe in Belorussland oder die neue Unterwerfung des Baltikums ab 1944/45. Das Verschweigen dieser Geschehnisse war eben auch Bestandteil sowjetischer Erinnerung an Kriegstragödien. Von daher ist es sicherlich nicht unproblematisch, bereits in der Einleitung auf das Geschichtsbild der "Russen" abzuheben (9), wenn man sich der (post-)sowjetischen Erinnerung insgesamt widmet.

Damit hinterlässt der Katalog einen zwiespältigen Eindruck: Das Ausstellungsmaterial hält alles für eine kritische Würdigung der sowjetischen wie postsowjetischen Erinnerung an den Krieg bereit. Die Präsentation, genauer: die textliche Begleitung lässt es dagegen mitunter an der notwendigen Genauigkeit oder Kontextualisierung verschiedener Momente fehlen. In seiner Gesamtheit vermag der Ausstellungskatalog die immense Bedeutung der Kriegserinnerungen für die Gesellschaft in den (post-)sowjetischen Republiken ins rechte Licht zu rücken. Damit lenkt er den Blick auf erinnerungspolitische Bindeglieder und Diskrepanzen zwischen dem sowjetischen Staat und seiner Gesellschaft, die ihren Teil an Aufstieg und Niedergang der UdSSR hatten.


Anmerkungen:

[1] Vgl. beispielhaft Igor J. Polianski: Die kleineren Übel im großen Krieg. Der 60. Jahrestag des Sieges: Das Fest des historischen Friedens und der Krieg der Geschichtsbilder zwischen Baltikum und Russland, in: Zeitgeschichte-online, 5 (2005), http://www.zeitgeschichte-online.de/zol/_rainbow/documents/pdf/russerinn/polianski.pdf.

[2] Vgl. Bernhard Bonwetsch: "Ich habe an einem völlig anderen Krieg teilgenommen". Die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg in der Sowjetunion, in: Krieg und Erinnerung. Fallstudien zum 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Helmut Berding u. a., Göttingen 2000.

[3] Im Literaturverzeichnis des Katalogs findet sich durchaus das entsprechende Werk von Amy Weiner, Making sense of war: The Second World War and the fate of the Bolshevik revolution, Princeton 2000.

Rezension über:

Peter Jahn (Hg.): Triumph und Trauma. Sowjetische und postsowjetische Erinnerungen an den Krieg 1941-1945, Berlin: Ch. Links Verlag 2005, 215 S., ISBN 978-3-86153-356-6, EUR 29,90

Rezension von:
Andreas Hilger
Hamburg
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Hilger: Rezension von: Peter Jahn (Hg.): Triumph und Trauma. Sowjetische und postsowjetische Erinnerungen an den Krieg 1941-1945, Berlin: Ch. Links Verlag 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 2 [15.02.2006], URL: https://www.sehepunkte.de/2006/02/9231.html


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