sehepunkte 6 (2006), Nr. 2

Tatjana Timoschenko: Die Verkäuferin im Wilhelminischen Kaiserreich

Vorliegendes Buch ist eine anhand lokaler Hamburger Originalmaterialien ungewöhnlich weit recherchierte Magisterarbeit. Sie bezieht eine Teilauswertung der zahlreichen zeitgenössischen wissenschaftlichen Untersuchungen in die Analyse mit ein und belegt, dass die Autorin sich mit den vielen neueren Veröffentlichungen zur Angestelltengeschichte und zur Erwerbstätigkeit von Frauen beschäftigt hat. Sie präsentiert ihre Ergebnisse gut gegliedert und leicht lesbar in vier Kapiteln (inklusive Einleitung und Fazit). Verdienstvoll sind vor allem ihre Darlegungen der zunächst privaten, später besonders in Hamburg auch staatlichen Aus- und Fortbildung von Verkäuferinnen, an denen vor allem die Kaufhäuser in jüdischem Besitz interessiert waren (121-150). Dazu gibt es eine Fülle zeitgenössischer, bisher aber kaum neuerer Darstellungen, was Timoschenko leider wohl verführt, ihre Argumentation der in den 1980er-Jahren geführten Professionalisierungsdiskussion anzuschließen, anstatt etwa genauer zu fragen, warum besonders jüdische Kaufhausbesitzer die privaten Ausbildungsbestrebungen gegen so genannte zeitgenössische "Pressen" unterstützten.

Daher verrät die Schrift auch typische Mängel einer Magisterarbeit: vor allem nutzt sie die Fülle der äußerst differenzierten Lagebeschreibungen der damaligen Interessenverbände und Organisationen nur sehr selektiv, weil davon angeblich "nur vereinzelt Exemplare, die über das gesamte Bundesgebiet verstreut sind, existieren" (25). Timoschenko erkennt deshalb häufig nicht, dass hinter den Namen der benutzten Schriften männliche wie weibliche Verbandsfunktionäre der Frauen- wie anderer Organisationen standen, und zwar auch Agnes Hermann, Gertrud Israel, Eva von Roy. Das verführt sie wiederholt zu Fehleinschätzungen wie: "Bisweilen konnten die Berufsverbände direkt auf die Gesetzgebung Einfluss nehmen, die Frauenverbände jedoch nur, sofern männliche Verbandsmitglieder oder Sympathisanten des Verbandes in Parlamenten vertreten waren oder als Sachverständige in entsprechende Ausschüsse oder Kommissionen gelangten" (79). Frauen als Sachverständige, wie sie vor allem die Frauenverbände nicht nur hervor-, sondern auch in Krankenkassen, Schulgremien, Untersuchungskommissionen, Reichsämtern usw. unterbrachten, entgehen Timoschenko offenbar, weil sie sie im Kaiserreich nicht erwartet.

Vor allem der erste Verein, der auch Verkäuferinnen organisierte, der kaufmännische und gewerbliche Hilfsverein für weibliche Angestellte, wurde bereits 1889 in Berlin als eine sich potenziell auf das ganze Reich ausdehnende gewerkschaftsähnliche Vereinigung gegründet. Daher sind die "Verbündeten Vereine weiblicher Angestellter" eher als lokale Ableger zu verstehen, deren Differenzen sich mehr aus sehr unterschiedlichen regionalen Gegebenheiten erklären lassen, als aus unverständlicher Frauenkonkurrenz untereinander. Timoschenko (83) beschreibt die Organisationen mit Sekundärbewertung (durch Brigitte Kerchner 1992), nicht aber anhand von solcher Wertung widersprechenden Originalmaterialien.

Die ab 1905 als Verband auftretende Berliner Organisation zählte 1904 bereits 17.631 Mitglieder, erfährt aber in der Darstellung von Timoschenko (77 ff.) eine sachlich völlig unangemessene Abwertung gegenüber dem viel kleineren sozialdemokratischen Zentralverband der Handlungsgehilfen und Gehilfinnen Deutschlands mit Sitz in Hamburg, der bereits 1883 gegründet, ab 1898 auch Frauen - vor allem Verkäuferinnen aus Konsumgenossenschaften, und diese zwangsweise - aufnahm und bis 1904 nur 1.855 männliche sowie 1.854 weibliche Mitglieder, aber noch 1918 unter acht Vorstandspersonen lediglich eine Frau zählte. Einem aktuell häufigen Missverständnis folgend, erscheint er in dieser Publikation - seiner eigenen Propaganda aufsitzend - sowohl als geschlechterübergreifend als auch mehr gewerkschaftlich, daher progressiver, ohne dass die Kriterien solcher Wertungen nachvollziehbar formuliert werden.

Es ist auch bedauerlich, dass Timoschenko die sehr ausgeprägte und bereits in der zeitgenössischen wissenschaftlichen Literatur massiv hervorgehobene Differenzierung unter den Verkäuferinnen nach Branchen und nicht lediglich nach Betriebsgrößen bestenfalls streift und daher die unterschiedliche schichten- oder klassenmäßige Zuordnung der Frauen untereinander nach Herkunft und Ausbildung und eigenem Bestreben, aber eben besonders auch nach Branchen, und nicht lediglich gegenüber allen Männern oder allen Kontoristinnen unterschätzt und also nicht in einen Zusammenhang mit der relativ zögerlichen Selbstorganisation von (weiblichem wie männlichem) Verkaufspersonal bringt.

Vor allem ihre Ausführungen im dritten Kapitel und ihr Fazit verraten daher, dass die Autorin zwar sehr viel Literatur zur Kenntnis genommen, aber die vorgefundenen "Quellen"-Zitate, Thesen, Einordnungen und widerstreitenden Generalisierungen nicht kritisch miteinander verglichen hat. Vielmehr entnimmt sie daraus selektiv, was ihrer etwas sehr glatten Darstellung nutzt. Es ist jedoch weniger der Autorin als der sie mit ihrem Vorwort unterstützenden Barbara Vogel anzulasten, dass sie der Publikation ausdrücklich "wissenschaftliche[n] Wert" und "einen deutlichen Erkenntnisfortschritt" bescheinigt. Sie begründet diesen vor allem entgegen der eigenen Aussage Timoschenkos (25) mit der Auswertung von Archiven der großen Kaufhäuser, die es entweder gar nicht gibt oder die Timoschenko ebenso wenig wie andere Forscher zuließen.

Die Publikation verrät daher, dass man Timoschenko besser geraten hätte, eine übliche Magisterarbeit einzureichen und sich danach unter kritischer Begleitung an eine gründliche wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Fülle damaliger spezialisierter wie auch späterer leider eher generalisierender Schriften zu machen. Diese hätte denn auch die Zentralthese von einer angeblichen Entwicklung des Berufs der Verkäuferin vom "Durchgangsberuf" zu einem modernen anspruchsvollen Lebensberuf, also einer "Professionalisierung" im 20. Jahrhundert, noch einmal gründlich anhand der Tatsachen seit den 1920er-Jahren zu hinterfragen. Denn in mehr und mehr Branchen entwickelten sich die Tätigkeiten im Verkauf nach dem Kaiserreich keinesfalls zu qualifizierten Berufen, sondern unterlagen mit zunehmender Ausdehnung den ständigen Rationalisierungsbestrebungen des Handels bis hin zur so genannten kapazitätsorientierten variablen Arbeitszeit. Nur der Begriff ist seit Ende des 20. Jahrhunderts neu; seinen Inhalt, ungeschützte Arbeit auf Abruf, erlebten vor allem Verkäuferinnen schon seit den 1920er-Jahren.

Es ist Timoschenko zu wünschen, dass sie für die auf dem Klappentext des Buches angekündigte didaktische DVD in diesem Sinne solidarische Unterstützung erfährt. Einem Verlag "der Wissenschaften" ist darüber hinaus nahe zu legen, tatsächlich wissenschaftliche Veröffentlichungen nicht mit überholt klischeehaften Klappentexten über "typische Frauenberufe" oder "Männerdomäne[n]" sowie "standesbewussten Kontoristinnen" (als angeblichen Kontrahenten von Verkäuferinnen) zu versehen.

Rezension über:

Tatjana Timoschenko: Die Verkäuferin im Wilhelminischen Kaiserreich. Etablierung und Aufwertung eines Frauenberufes um 1900, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2005, 177 S., ISBN 978-3-631-53350-5, EUR 39,00

Rezension von:
Ursula Nienhaus
Frauenforschungs-, -bildungs- und -informationszentrum, Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Ursula Nienhaus: Rezension von: Tatjana Timoschenko: Die Verkäuferin im Wilhelminischen Kaiserreich. Etablierung und Aufwertung eines Frauenberufes um 1900, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 2 [15.02.2006], URL: https://www.sehepunkte.de/2006/02/9428.html


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