Die Krönungsfeierlichkeiten der letzten Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gerieten in den Augen aufgeklärter Beobachter zum abgefeimten Spektakel. Johann Wolfgang von Goethe notierte etwa, dass Kaiser Franz I. bei seiner Krönung 1745 im altüberkommenen Ornat wie "Das Gespenst Karls des Großen" gewirkt habe. Auch sein Sohn schleppte sich 1764 "in den ungeheuren Gewandstücken Karls des Großen wie in einer Verkleidung einher". Doch bei aller aufgeklärten Aversion erkannte der Dichterfürst auch das enorme Erkenntnispotenzial der verborgenen Zeichengebilde, ja er gewann ihnen gar "manche Lust ab": Der Blick auf den Pomp altüberkommener Inszenierungen schien ihm von der Mikroebene eigener Wahrnehmung einen Blick auf die Makroebene politisch-sozialer Bedeutungsfelder zu gewähren, "weil alles, was vorging, es mochte sein, von welcher Art es wollte, doch immer eine gewisse Deutung verbarg, irgend ein inneres Verhältnis anzeigte, und solche symbolische Zeremonien das durch so viele Pergamente, Papiere und Bücher beinah verschüttete Deutsche Reich wieder für einen Augenblick lebendig darstellten".
Goethes Abscheu den abgeschmackten Attrappen vergangener Kaiserherrlichkeit gegenüber markiert ebenso wie sein Erkenntnisgewinn die beiden Pole, zwischen welchen sich jede moderne Interpretation ritueller Symbolsprache unvermeidbar bewegen muss. Sind die zeremoniellen Akte bei Krönungsfeierlichkeiten und Amtseinsetzung lediglich Schaufassaden oder sensible Seismografen sich wandelnder Ordnung? Dienen sie der Verschleierung oder vielmehr zur Offenlegung tatsächlicher Gegebenheiten? Die Beiträge des von Stefan Weinfurter und Marion Steinicke herausgegebenen Bandes reflektieren diese Problemstellung von denkbar unterschiedlichen Perspektiven ausgehend. Sie repräsentieren die Erträge eines Symposiums, das im Oktober 2003 im Rahmen des Heidelberger SFB 619 "Ritualdynamik" Vertreter unterschiedlicher geisteswissenschaftlicher Fachdisziplinen zusammenführte. Das Ergebnis kann zweifellos als gelungenes Beispiel interdisziplinären Dialogs gelten.
Im Zentrum der methodischen Diskussion stehen die beiden mediävistischen Beiträge Gerd Althoffs und Stefan Weinfurters. Ersterer widmet sich unter der Formel 'artistische Zeichensetzung' dem Doppelcharakter des Rituals, dessen kommunikative Leistungskraft vor allem in der Eindeutigkeit stets wiederkehrender Handlungssequenzen bestand, das zugleich jedoch "sehr exakt auf die im jeweiligen Fall gegebenen Kräfteverhältnisse" (94) angepasst werden konnte. Expressive Ausdrucksformen wie Tränen, Kniefälle und vermeintliche Spontaneität hätten als 'Authentizitätsfassaden' die Verbindlichkeit des Gezeigten erhöht. Ziel sei es gewesen, Akteuren und Zuschauern "Versprechungen zukünftigen Verhaltens mit hohem Geltungsanspruch" (95) abzuverlangen. Diese Technik der verpflichtenden (Wieder-)Herstellung politischer Ordnung hatte jedoch nicht während des gesamten Hochmittelalters in gleicher Weise Bestand, wie Stefan Weinfurter überzeugend darlegt. Das in ottonisch-salischer Zeit wirksame "auf Gott bezogene Ordnungssystem der Gnade" (123) habe im Verlauf des 12. Jahrhunderts zusehends einem konkurrierenden Ordnungsfaktor Raum geben müssen: dem geschriebenen Recht. Bischofseinsetzungen und Lehensvergaben seien spätestens seit dem Ende des 'Investiturstreits' weniger als flexibel einsetzbare Gnadenakte des vicarius Christi denn als Einzelfacetten präzise gefasster Rechtsansprüche begriffen worden: "Das Ritual der Investitur [...] überdauerte die Zeiten, aber seine Aussage und seine Bedeutung veränderten sich so tiefgreifend, daß man am Ende des Mittelalters kaum mehr von derselben Sache zu sprechen vermeint" (123). Der juristisch fixierte Anspruch auf Iteration der Ritualhandlungen führte - so resümiert Bernd Schneidmüller am Ende des Bandes - zu ihrer zunehmenden 'Sklerotisierung': "Planbar und erwartbar schufen sie den legitimierenden Schein für eine statisch anmutende Welt" (475).
Dieser substanzielle Wandel im Ritualgebrauch ist an der Wende zum europäischen Spätmittelalter an mehreren Stellen zu beobachten. Rituelle Inszenierung wie die von Gert Melville untersuchte Investitur des französischen Wappenkönigs oder die Dichterkrönung Dantes (Marion Steinicke) wirken nun als Instrumente der wohlkalkulierten Privilegiensicherung zu Gunsten ihrer Konstrukteure. Zugleich erscheint das öffentliche Ritual an den Rand politischer Sinnstiftung gerückt, ja im Fall der Narrenbischöfe (Hans Rudolf Velten), der sociétés joyeuses (Katja Gvozdeva) oder der rituellen Beraubungen im Rahmen des Herrscheradventus (Gerrit Jasper Schenk) geradezu zur Pervertierung herrschender Strukturen geeignet. Dennoch vermag gerade die chaotische Umkehr zur Einübung und somit zur Stabilisierung bestehender Machtbalancen beizutragen. Die noch im 16. und 17. Jahrhundert fassbaren Konflikte um jede punktuelle Veränderung des Frankfurter Krönungsablaufs (Harriet Rudolph) zeigen dessen ungebrochene Bedeutung für die Rechtsstellung der beteiligten Akteure. Sie belegen zugleich die abnehmende Flexibilität der Ritualkonstruktion im Wandel zur Neuzeit. Nicht zuletzt diese Tendenz zur Erstarrung durch die Argumente von Recht und Tradition waren es, die in Goethes kritischer Ekphrase zum Ausdruck kamen (Heinz-Georg Held).
Die Macht historischer Kontinuitätssicherung lässt sich auch außerhalb des christlichen Abendlandes vielfach belegen: In der Einsetzung byzantinischer Herrscher (Kai Trampedach) ebenso wie im Zeremoniell der Königsnachfolge im heutigen Süd-Niger (Walter Kühme). Das gewandelte Kräfteverhältnis zwischen Kalifen und lokalen Fürsten im 10. Jahrhundert (Jenny Rahel Oesterle) bzw. Sultan, Wesir und Janitscharen im osmanischen Reich (Colin Imber) verlangte jeweils nach einer situativ angepassten Balance zwischen traditionellem Ranganspruch und realen Kräftekonstellationen. Ein Defizit an Legitimität machte zudem "besondere Strategien und Techniken der persuativen Inszenierung" (268) notwendig, wie der Dynastiewechsel von den Han zu den Wei im alten China dokumentiert (Ulrike Middendorf). Der argumentative Charakter solcher Inszenierungen und mehr noch ihrer literarischen Überformung lässt sich an Beispielen des antiken Israel (Markus Saur) und Griechenland (Angelos Chaniotis, Claude Calame) ebenso nachvollziehen wie im politischen Theater der Neuzeit (Esther von der Osten-Sacken). Aus dem in nahezu allen Beiträgen fassbaren Amalgam von politischer Konsensstiftung und der normativen Kraft von Tradition und Recht ergibt sich denn auch das nur scheinbar paradoxe Doppelgesicht des Rituals der Herrschereinsetzung: Es diente der Absicherung aktueller Ordnungskonfigurationen durch die Verschleierung struktureller Brüche und politischer Wiedersprüche. Im Akt der Krönung kondensierten Momente von Kontinuität und Wandel gleichermaßen. Sein Ziel war die Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Der vorliegende Band unterwirft die vielfältigen Erscheinungsformen des Krönungszeremoniells keiner einheitlichen Systematik, Terminologie oder Forschungsmethodik. Sein zentrales Verdienst besteht vielmehr in dem konzertierten Zugriff unterschiedlicher geschichts- und kulturwissenschaftlicher Fachkulturen auf ein gemeinsames Thema. Im Dialog der Disziplinen erfolgt nicht nur eine Schärfung des Methodenbewusstseins, er enthält zugleich das Potenzial zur fruchtbaren Überwindung sicher geglaubter Paradigmen. Nicht nur die Dynamik innerhalb der komplexen Welt der Rituale wird dadurch sichtbar gemacht, sondern auch die Welt der Ritualforschung um dynamische Impulse bereichert.
Marion Steinicke / Stefan Weinfurter (Hgg.): Investitur- und Krönungsrituale. Herrschaftseinsetzungen im kulturellen Vergleich, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005, VII + 496 S., 6 Farb-, 20 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-09604-5, EUR 54,90
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