sehepunkte 6 (2006), Nr. 11

Manuela Beer: Triumphkreuze des Mittelalters

Von den monumentalen Triumphkreuzen und Triumphkreuzgruppen des 12. und 13. Jahrhunderts, die Gegenstand dieser in Umfang und Gewicht zunächst erschlagend wirkenden Untersuchung sind, hat sich kein Einziges mit den zugehörigen Elementen Lettner, Chorschranken, Kreuzaltar und Grablege in originaler Disposition erhalten. Umso verdienstvoller ist daher das von Manuela Beer geleistete Unterfangen, erstmals eine grundlegende Analyse und Bestandsaufnahme dieser innerhalb der mittelalterlichen Kirchenausstattung in Größe, Bedeutung und oftmals auch in künstlerischer Qualität herausragenden Bildwerke vorzulegen. Titel und Inhaltsverzeichnis der 2003 bei Frank Günther Zehnder in Bonn eingereichten Dissertation machen deutlich, dass die Arbeit der allgemein sich durchsetzenden Tendenz entspricht, Bildwerke nicht nur als zeit- oder stilgeschichtliche Dokumente, sondern auch und insbesondere als Ausdruck theologischen Gedankenguts und liturgischer Anforderungen zu betrachten. In Material und Ansatz bildet die Publikation ein weiter ausgreifendes Pendant zur 2004 erschienen Doktorarbeit von Gerhard Lutz, die sich ausgehend von den sächsischen und westfälischen Kruzifixen der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts mit der Frage des in dieser Zeit stattfindenden Wandels in der Darstellung des Gekreuzigten widmet (siehe dazu die Rezension von P. Marx in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 10).

Der vorliegende Band gliedert sich in einen etwa die Hälfte umfassenden Textteil, der in acht Kapiteln den grundsätzlichen Fragestellungen zu Begrifflichkeit, Technologie, Ikonografie, Genese und Entwicklung, der theologisch-liturgischen Dimension und der europäischen Verbreitung der Triumphkreuze nachgeht. Der sich dem Literaturverzeichnis anschließende Katalog des deutschen Denkmälerbestands stellt insgesamt 121 Objekte, darunter viele unbekannte Stücke, in zum Teil recht umfänglichen Kurzmonografien vor. Neben den ehemals farbig gefassten und teils nur fragmentarisch erhaltenen Holzskulpturen werden auch drei gemalte Kruzifixe behandelt. Die reiche Bebilderung von Text- und Katalogteil ergänzt sich auf ideale Weise, ein Ortsregister erleichtert die gezielte Recherche zu einzelnen Werken.

Nachdem in der Einführung Methode und Zielsetzung formuliert und der Stand der Forschung kritisch referiert ist, widmet sich Beer in Kapitel II. der Frage, welche formalen und inhaltlichen Elemente ein so genanntes Triumphkreuz auszeichnen. Grundlegend ist danach die Unterscheidung zwischen dem eigentlichen Kreuzesholz und der dort angebrachten oder eingelassenen Kreuzesleiste, an welcher der Leib Christi befestigt ist. Indem diese plastische Differenzierung mit der jeweiligen Gestaltung als crux gemmata bzw. lignum oder arbor vitae einhergeht, sind die wichtigsten Aussagen des Triumphkreuzes visualisiert: Das Gemmenkreuz kündet von der endzeitlichen Wiederkehr des siegreichen Christus in der Zweiten Parusie, der Lebensbaum verweist auf die Überwindung des Todes durch den Erlöser in der Auferstehung. Finden sich diese Merkmale an Kruzifixen monumentalen Formats, die dauerhaft beim Kreuzaltar und an der Schwelle zwischen Laienkirche und Chor angebracht sind, kann laut Beer von einem "voll ausgebildeten" Triumphkreuz bzw. einer Triumphkreuzgruppe die Rede sein.

An den Überblick zu den erhaltenen Bildwerken in den verschiedenen Regionen Deutschlands (Kapitel III.) schließt sich die vergleichende Analyse der dort anzutreffenden technologischen Befunde (verwendete Holzarten, Oberflächengestaltung etc.) an (Kapitel IV.). Das Ergebnis stützt die typologische Definition und ermöglicht eine Abgrenzung zu großformatigen Holz-, Bronze-, Elfenbein- oder Goldschmiedekreuzen aus anderen funktionalen Zusammenhängen. Auch wenn das heutige Erscheinungsbild der Objekte meist nur einen schwachen Eindruck von ihrem ehemaligen Aussehen gibt, genügen schnitzerischer Dekor oder Überreste von Applikationen, Farbfassung oder Vergoldung, um die Verschmelzung von Siegeskreuz und Lebensbaum zu konstatieren.

In Kapitel V. werden die Bildwerke ikonografisch unter die Lupe genommen. Neben die endzeitlich-eschatologische Mehrdeutigkeit der Kruzifixe treten durch zusätzlich Motive wie Evangelistensymbole, Engel oder Cherubim, den Stammvater Adam, Heilige, Kirchenpatrone oder Apostel weitere Sinnebenen. Es zeigt sich, dass die inhaltliche Komplexität ein besonderes Merkmal der hochmittelalterlichen Triumphkreuze und Triumphkreuzgruppen ist. Eine wichtige Rolle spielen dabei Form und Gestaltung des Gekreuzigten, der zumeist entweder als bekrönter Sieger (rex triumphans) oder als geduldig sein Schicksal ertragender Christus patiens charakterisiert ist. Entscheidend ist dabei die Tatsache, dass bei letzterem zwar das menschliche Leiden des Gottessohnes u. a. durch den herabgesunkenen Kopf und die halbgeschlossene Augen thematisiert, aber nicht im ausdrücklich eucharistischen Sinne z. B. durch herabfließende Blutströme besonders betont wird. Diese sehr viel deutlicheren Hinweise auf die körperliche Passion Christi finden seit der Mitte des 13. Jahrhunderts Eingang in die Triumphkreuz-Ikonografie, womit, so Beer, eine formale Erstarrung der ursprünglichen Bildidee einhergeht und deren Ende besiegelt.

Eine der zentralen Thesen des Abschnitts zu Genese und Entwicklung (Kapitel VI.) lautet, dass es sich bei den bislang als Vorläufer der erhaltenen Triumphkreuze des 11. Jahrhunderts eingestuften und lediglich archivalisch bezeugten karolingischen Beispielen bereits um den voll entwickelten Typ gehandelt haben könnte. Mit dem ältesten erhaltenen Werk, dem Kölner Gerokreuz aus der Zeit um 980, setzt die Etablierung des Bildprogramms im 11. Jahrhundert ein, das um 1100 durch die Assistenzfiguren erweitert wird. Nach der Blütezeit zwischen 1200 und etwa 1260 mit der größten Denkmälerdichte kommt es dann zu einer stärkeren Ausrichtung auf das eucharistische Geschehen am Altar und auf die compassio der Gläubigen, was sich auch in einer bis dahin unüblichen emotionalen Gestaltung der Trauernden unter dem Kreuz widerspiegelt.

Den Höhe- und Wendepunkt in dieser Entwicklung markiert für Beer das im Halberstädter Dom befindliche Triumphkreuz-Ensemble aus dem 1. Drittel des 13. Jahrhunderts. U. a. ihre eingehende Beschäftigung mit den dort integrierten Cherubimfiguren im vorherigen Kapitel aufgreifend, kann die Autorin dieses bedeutendste deutsche Werk überzeugend auf ein in England zu Ende des 11. Jahrhunderts entstandenes Modell zurückführen. Mit einem Exkurs zum im 14. Jahrhundert sich herausbildenden Andachtsbild des Cruzifixus dolorus und zu den "vermeintlichen Triumphkreuzen und Triumphkreuzgruppen" des Spätmittelalters unterstreicht Beer die von ihr gezogene Grenzlinie zum Gegenstand ihrer Arbeit.

Wie Triumphkreuze in der Geschichte der bildlichen Darstellung von Kreuzen im Kirchenraum seit der Spätantike zu verorten sind, führt Kapitel VII. aus. Beer kann hier sowohl zu den Bildprogrammen der frühchristlichen Kirchenapsiden mit dem dort angebrachten Siegeskreuzen als auch zu den Werken der Schatzkunst deutliche Unterschiede ausmachen. Im Gegensatz zu einer bislang angenommenen Abhängigkeit der Triumphkreuze von den fest am Kreuzaltar installierten Gemmenkreuzen muss wohl eher von einem parallelen Phänomen gesprochen werde. Die in diesen Zusammenhang gehörigen ottonischen Kreuzsäulen in Hildesheim und Essen sieht Beer bereits räumlich und inhaltlich in der Funktion der Triumphkreuze. Dies fällt z. B. auch bei der Frage nach dem ehemaligen Aussehen des spätromanischen Westlettners der Hildesheimer Michaliskirche ins Gewicht, für den sie abweichend von der bisherigen Rekonstruktion keine Kreuzesgruppe annimmt. Auch dem oftmals vernachlässigten Versuch, die Wahrnehmung sakraler Kunstwerke durch den zeitgenössischen Betrachter bei deren Interpretation zu berücksichtigen, unterzieht sich die Autorin auf vorbildliche Weise.

Das abschließende Kapitel VIII. verknüpft die Resultate der Arbeit mit den in Mitteleuropa erhaltenen Triumphkreuz-Ensembles. Dabei werden z. B. Fragen wie die nach einem vermeintlichen französischen Triumphkreuz-"Urbild" behandelt. Nicht zuletzt bietet sich hier auch die Möglichkeit, auf Forschungsdesiderate wie eine Untersuchung der plastischen Monumentalkreuze Italiens hinzuweisen, die auf Grund ihres formalen und teils auch stilistischen Bezugs zu deutschen Skulpturen von besonderem Interesse wären.

Insgesamt ist die Lektüre des Buches trotz seines Umfangs anregend und kurzweilig, die zentralen Aussagen werden anschaulich und nachvollziehbar vor den Lesern ausgebreitet. Bei der Behandlung von eher nebensächlichen Aspekten und in den Anmerkungen findet sich eine Fülle weiterer Informationen. Gewisse verzeihliche Überschneidungen und Wiederholungen im Textteil legen den Gedanken nahe, dass die acht Kapitel auch als Einzelstudien gelesen werden können. Der seit längerem am Museum Schnütgen in Köln als Kustodin tätigen Autorin gebührt größter Respekt für die Erarbeitung dieses detailreichen und methodisch innovativen Nachschlagewerks. Zur Beantwortung der nur scheinbar simplen Frage, was ein Triumphkreuz oder eine Triumphkreuzgruppe im Hochmittelalter ist und ausmacht, muss künftig in jedem Fall zur gewichtigen Arbeit von Manuela Beer gegriffen werden.

Rezension über:

Manuela Beer: Triumphkreuze des Mittelalters. Ein Beitrag zu Typus und Genese im 12. und 13. Jahrhundert. Mit einem Katalog der erhaltenen Denkmäler, Regensburg: Schnell & Steiner 2005, 846 S., 460 Abb., ISBN 978-3-7954-1755-0, EUR 118,00

Rezension von:
Petra Marx
Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster
Empfohlene Zitierweise:
Petra Marx: Rezension von: Manuela Beer: Triumphkreuze des Mittelalters. Ein Beitrag zu Typus und Genese im 12. und 13. Jahrhundert. Mit einem Katalog der erhaltenen Denkmäler, Regensburg: Schnell & Steiner 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 11 [15.11.2006], URL: https://www.sehepunkte.de/2006/11/9519.html


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