Pünktlich zum 100. Geburtstag der Künstlergruppe Brücke hat Meike Hoffmann eine neue Gesamtdarstellung des durch sie verkörperten Beitrags zur Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts vorgelegt, die als Dissertation von Werner Busch in Berlin betreut wurde. Gerade aber diese Sicht auf die Brücke als Avantgardegruppierung ist bis heute umstritten, und mit Peter Bürger besitzen diejenigen, die den Beitrag des deutschen Expressionismus zu minimieren suchen einen überaus prominenten Gegenredner. Umso mehr interessiert die argumentative Begründung der Sichtweise der Autorin, denn für sie kann kein Zweifel daran bestehen, dass es sich bei der Brücke um eine Avantgardegruppe handelt, selbst wenn der von Wolfgang Asholt, Walter Fähnders und anderen ausgemachte "Manifestatismus" der Avantgarde im Falle der eher wortkargen Dresdner kaum zu konstatieren ist. [1]
Die Arbeit besteht im Wesentlichen aus drei großen Abschnitten: zunächst untersucht Hoffmann die "Entgrenzung von Leben und Kunst", wobei die weltanschaulichen Prämissen der Gründungsmitglieder, die Gruppenstruktur, die legendären Sommeraufenthalte sowie die Ateliers als gemeinsam genutzte Orte der Kreativität in den Blick kommen. Der zweite Teil beschäftigt sich mit den Vermittlungsstrategien der Künstlergruppe, dabei geht es um die Ausstellungen der Gemeinschaft, die Ausstellungs- und Werbegrafik und ferner um die freilich eher bescheidene Lehrtätigkeit einzelner Mitglieder sowie schließlich um den Umgang mit der der Brücke zum Teil regelrecht entgegen schlagenden öffentlichen Kritik. Der abschließende dritte Teil widmet sich den programmatischen Aspekten der Gruppe, etwa der Namensgebung, vor allem aber dem Stammbuch "Odi profanum", dem Programm von 1906 und schließlich der Chronik der Brücke, über deren Abfassung und inhaltliche Ausrichtung die Gruppe im Streit mit Ernst Ludwig Kirchner 1913 zerbrach.
Im ersten Teil ihrer Darstellung analysiert Hoffmann die geistigen Grundlagen der Künstlergruppe, wobei sie nach der Konstatierung einer "frühen Berufung zum Künstlerdasein" vor allem das Architekturstudium in Dresden und die prägende Rolle Fritz Schumachers als Lehrer stärker als bisher üblich in den Vordergrund rückt. Gerade die innenarchitektonischen Entwürfe, die immer wieder und auch nach dem Ende der Brückezeit bei einzelnen Künstlern anzutreffen sind, gehen auf diese frühe Prägung zurück. Hoffmann rekonstruiert detailliert die entscheidenden Einflüsse auf die Brückekünstler, zu denen neben Schumacher auch die Einfühlungslehre von Theodor Lipps oder die Lehrtätigkeit von Cornelius Gurlitt an der TH Dresden, aber auch die englischen Reformideen des 19. Jahrhunderts oder Nietzsches Philosophie zählen. Anschließend geht es um die interne Struktur der Gruppe, der Bildung einer "idealen Gemeinschaft" ohne autoritäre und hierarchische Struktur, und ihre fortgesetzten Versuche, konkrete Unterstützung für die zahlreichen Ausstellungen zu finden und passive Mitglieder zu werben, nicht zuletzt um sich von der staatlichen Kunstpflege und dem Kunsthandel zu emanzipieren und das Bildungsbürgertum für die Gruppenziele zu gewinnen (40 ff.). Insgesamt leidet die Darstellung hier zuweilen an einem stark zusammenfassenden Stil, der keine flüssige Darstellung in Gang bringt, sondern eher in der Zusammenstellung weitgehend bekannter, zuletzt häufig in Katalogbeiträgen erarbeiteter Sachverhalten stecken bleibt, auch wenn mitunter neue Akzentsetzungen vorgenommen werden.
Zu Recht legt Hoffmann im zweiten Teil ihrer Studie einigen Wert auf die Darstellung der im Vergleich enormen Ausstellungstätigkeit der Brücke, ferner insbesondere auf die Vermittlungsstrategien der Künstler, die sich u. a. in einer umfangreichen Geschäfts- und Werbegrafik oder in den berühmten Jahresmappen für die Passivmitglieder der Gemeinschaft manifestieren, während die Lehrtätigkeit der Brücke, der ein eigenes knappes Unterkapitel gewidmet ist, doch vernachlässigenswert erscheint. Es ist dieser Teil der Arbeit, vor allem, wenn man ihn mit dem über 80 Seiten und 65 Nummern einnehmenden Werkverzeichnis zusammen sieht, der wohl das wichtigste Teilergebnisse der Studie darstellt, auch wenn er nicht den größten Platz einnimmt. Erhellend sind weiter die detaillierten Ausführungen zur Namensgebung, wobei Hoffmann die Künstlerselbstaussagen - auf die sie sich mitunter zu sehr verlässt - sammelt und kritisch bewertet, sodass die Bezeichnung Brücke in vertrauter Weise schließlich als Symbol des Übergangs und der Entgrenzung erscheint (162.ff.). Die Rekonstruktion des Stammbuchs "Odi profanum", von Hoffmann primär als Dokumentation der Gruppe und interner künstlerischer Vergleich gedeutet, sowie die Auslassungen zum Programm von 1906 und zur Chronik von 1913 berücksichtigen die entscheidenden programmatischen Dokumente der Gruppe. Neben kleineren Ergänzungen, die vor allem das Stammbuch betreffen, und Korrekturen mit Blick auf die bisherige Forschung überzeugt hier vor allem Hoffmanns Ansatz einer neu strukturierenden Zusammenfassung des Materials unter Vorgabe der neuen Perspektive, die sich zentral mit der Frage nach der "Kongruenz von Denken und Handeln" in der Gruppe auseinandersetzt. Das geschieht freilich etwas auf Kosten des im Titel der Studie suggerierten Anspruchs einer Gesamtdarstellung, denn die thematische Zusammenfassung und additive Darstellung von zentralen Aspekten der Gruppentätigkeit liefert noch keine Darstellung ihrer Geschichte. Der methodische Zugriff führt hier zwangsläufig zu einem Darstellungsproblem.
Nach der Lektüre des gefälligen, mitunter zu sehr die eigenen Originalität betonenden und sich in etwas zu lang ausfallenden historischen Exkursen und Ableitungen ergehenden Buches ist man kaum geneigt, von einer abschließenden Gesamtdarstellung zu sprechen - das war freilich auch nicht das Ziel Hoffmanns, muss man hinzufügen - und so möchte man die Darstellungen von Reinhardt oder Jähner zur Geschichte der Künstlergruppe keineswegs missen. [2] Dennoch stellt Hoffmanns Arbeit eine verdienstvolle Zusammenstellung und einen über weite Strecken gelungenen Zugriff dar, die als solide Grundlage für die weitere Beschäftigung mit der expressionistischen Avantgarde in Deutschland dienen wird. Deren Umrisse sind in Abgrenzung zur ausschließenden Dogmatik des Modernismus weiter zu konturieren. Mit Hoffmanns Darstellung liegt dazu die praktische Ausarbeitung eines Ansatzes vor, der zwar nicht neu ist, den man aber weiter verfolgen wird.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Wolfgang Asholt / Walter Fähnders (Hg.): Die ganze Welt ist eine Manifestation. Die europäische Avantgarde und ihre Manifeste, Darmstadt 2001.
[2] Vgl. Georg Reinhardt: Die frühe "Brücke". Beiträge zur Geschichte und zum Werk der Dresdner Künstlergruppe "Brücke" der Jahre 1905-1908 (= Brücke-Archiv, H. 11), Berlin 1977/78 (Phil. Diss. Bonn 1976) und Horst Jähner: Die Künstlergruppe "Brücke" und der deutsche Expressionismus. Studien zur Geschichte eines Kollektivs und das Lebenswerk seiner Repräsentanten, Berlin 1984 (Phil. Diss. Halle/Saale 1978).
Meike Hoffmann: Leben und Schaffen der Künstlergruppe 'Brücke' 1905-1913. Mit einem kommentierten Werkverzeichnis der Geschäfts- und Ausstellungsgrafik, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2005, 342 S., 12 Farb-, 187 s/w-Abb., ISBN 978-3-496-01331-0, EUR 59,00
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