"Gab es 'echte' Revolutionäre, gab es 'Jakobiner' in der Schweiz?" So lautet die Ausgangsfrage dieser Dissertation der Universität Freiburg i. Ue., die sich als "Beitrag zur schweizerischen Mentalitäts- und Ideengeschichte" versteht und sich zum Ziel setzt, "die radikalsten Schweizer Revolutionäre zu präsentieren, ihre politisch-gesellschaftlichen Vorstellungen offen zu legen und sie im Kontext der Französischen sowie der Helvetischen Revolution zu verorten" (12).
In zwei Zugriffen beleuchtet Lucas Chocomeli die nicht eben leichte Frage, wie sich Radikalismus bemessen lässt. In sieben Kurzbiografien wird im ersten Teil (43-187) der harte Kern der Radikalrevolutionäre vorgestellt. Dazu gehörten der aus patrizischer Familie stammende Genfer Jacques Grenus (1751-1819), der Notabelnsohn Jean-Nicolas-André Castella (1739-1807) aus dem Freiburger Landstädtchen Greyerz, der Bieler Bürger, Jurist, fürstbischöflich-baslerische Untertan und Präsident der kurzlebigen Raurachischen Republik Joseph-Antoine Rengguer (1734-1818), der Bündner Gardesoldat in französischen Diensten Aloys Jost (1759-1827), der Walliser Arzt, Anwalt und Gelehrte Chrétien Desloges (1760-1821), der Luzerner Krämersohn und Beamte Joseph Ronca (1759-1809) sowie der Waadtländer Handwerkerssohn und gelernte Buchdrucker Louis Reymond (1772-1821). Deren familiäre Herkunft, soziales und kulturelles Milieu werden ebenso beschrieben wie deren geistiger Werdegang und Karrieren im Zeitalter der Revolution. Im Fazit zu diesem Abschnitt werden als gemeinsame Merkmale dieser Männer der mehrheitlich hohe soziale Status ihrer Familien, die akademische Bildung, die Tätigkeit in freien Berufen (Juristen, Ärzte), der Einfluss von Jean-Jacques Rousseau und der Enthusiasmus für die Revolution in Frankreich betont, welch letzterer auch durch die jakobinische Terreur nicht geschmälert worden sei. Ob dieses Ergebnisses sollte aber nicht übersehen werden, dass der Verfasser dem Leser an keiner Stelle verrät, wie er bei seiner Suche nach den helvetischen "Jakobinern" vorgegangen ist.
Aus der internationalen Jakobiner-Forschung ist das methodische Problem hinreichend bekannt, wie schwierig sich eine trennscharfe Definition der "Jakobiner" und ihrer politischen Ideologie gestaltet. Nicht nur begegneten sich im Pariser Jakobinerklub Mitglieder mit einem wenig kohärenten Meinungsspektrum; die Begriffe "Jakobiner" und "Jakobinismus" wurden schon früh von den Gegnern der (radikalen) Revolution als polemische Kampfbegriffe eingesetzt, was die Festlegung eines klaren geistigen und politischen Profils dieser Gruppe zusätzlich erschwert. Der Verfasser ist diesem Problem dadurch begegnet, dass er Maximilien Robespierre als Jakobiner schlechthin definiert und - von diesem Kriterium ausgehend - "bei der Suche nach Jakobinern [...] politische Akteure zu finden" hatte, "deren Ideologie in den wesentlichsten Punkten mit der robespierristischen Lehre übereinstimmte oder ihr zumindest nicht widersprach" (22). Konkreter und im Hinblick auf die Positionierung im Spektrum der Helvetischen Revolution plausibler als dieses vage Kriterium erscheint der Versuch des Verfassers, das geistige und politische Profil der Radikalrevolutionäre durch einen Vergleich mit den Positionen jener prominenten so genannten "Patrioten" zu schärfen, die gemeinhin als die entschiedenen Anhänger der Helvetischen Revolution gelten. Die entscheidende Trennlinie zwischen "Patrioten" wie Frédéric-César de Laharpe, Jean-Jacques Cart, Henri Monod oder Peter Ochs einerseits und den "jakobinischen" Radikalrevolutionären andererseits sieht der Verfasser darin, dass erstere die breit abgestützte Volksherrschaft ablehnten, auf ein Repräsentativsystem und die Herrschaft einer Bildungselite setzten und dass sie auch keinen sozialen Reformwillen erkennen ließen. (30-36)
Der zweite Teil beschreibt den ideologischen Horizont und das politische Programm dieser radikalrevolutionären Minderheit (189-285) und fragt dann nach deren revolutionären Taktik und Strategie (286-368): "Wie rechtfertigten sie die Revolution; gegen wen sollte sich der Aufstand richten; welche Mittel wollten sie anwenden; wie definierten sie die Umbruchszeit der Revolution; bis wann sollte sie dauern; welche Rolle wollten sie in ihr spielen?" (12). Hier argumentiert der Verfasser auf der Basis der Ergebnisse seiner synthetisierenden, komparativen Lektüre der von den sieben Protagonisten verfassten Schriften. Nicht unproblematisch ist dies insofern, als die untersuchten Autoren ihre ideologischen Positionen kaum je systematisch, sondern hauptsächlich in Gelegenheitsschriften zum Ausdruck gebracht haben. Dies ergibt zwangsläufig ein wenig kohärentes Meinungsbild, weshalb der Verfasser in diesem zweiten Teil die Schriften von Rousseau und Robespierre "als Leitfäden und Vergleichsmaterialien" in seine Interpretation einbezieht, um auf diesem Weg "der generellen Linie und der inneren Logik radikalrevolutionärer Äußerungen" nachzugehen. Man wird an dieser Stelle dem Autor doch die kritische Frage stellen müssen, wie er es denn - über die Tatsache hinaus, dass die Jakobiner Rousseau verehrten - rechtfertigen kann, Rousseau als radikalrevolutionären Autor und als Gewährsmann für den helvetischen Jakobinismus beizuziehen.
Fragt man am Schluss der Analyse nach den Grundpfeilern des vom Verfasser herauspräparierten ideologischen Profils der helvetischen Jakobiner, so gehörten die Überzeugung von der natürlichen Gleichheit aller Menschen und der Notwendigkeit einer sozial breit abgestützten demokratische Verfassung ebenso dazu wie die Vorstellung eines gerechten, nach sozialpolitischen Gesichtspunkten gelenkten Wirtschaftssystems, das dank staatlicher Umverteilung die Existenz der ärmsten Bevölkerungsteile garantieren sollte. Das jakobinische Modell einer gerechten Staats- und Gesellschaftsordnung basierte auf der religiös unterlegten Tugendhaftigkeit der Bürger und der Absage an Laster und Verschwendung, die als Attribute des Ancien Régime perhorresziert wurden. Auf dem Weg zur idealen Republik bekämpften die radikalen Revolutionäre nicht nur das verhasste Ancien Régime, sie agitierten auch nach der Revolution gegen die neuen besitz- und bildungsbürgerlichen Eliten, wobei sie dabei theoretisch auch den Einsatz von Gewalt und Terror rechtfertigten.
Man wird sich am Schluss der Lektüre die Frage stellen müssen, ob es die ideologische Kohärenz der hier porträtierten Männer tatsächlich erlaubt, von "Jakobiner[n] und Jakobinismus in der Schweiz" zu sprechen. Dagegen spräche auch die Beobachtung, dass teilweise allenfalls lose, in der Regel aber gar keine persönlichen Verbindungen zwischen diesen Männern bestanden haben, die sich selber gegenseitig auch kaum als Repräsentanten einer einheitlichen Ideologie wahrgenommen haben. Es bleibt das Verdienst dieser Studie, unsere Kenntnis von der Bandbreite des ideologischen Spektrums während der Helvetischen Revolution erweitert und auf das Vorhandensein radikal demokratischer und egalitärer Positionen hingewiesen zu haben. In Absetzung davon lässt sich künftig die politische Ideologie jener besitz- und bildungsbürgerlichen, demokratieskeptischen Eliten schärfer profilieren, die in der kurzlebigen Helvetischen Republik den Ton angegeben haben.
Lucas Chocomeli: Jakobiner und Jakobinismus in der Schweiz. Wirken und Ideologie einer radikalrevolutionären Minderheit 1789-1803 (= Freiburger Studien zur Frühen Neuzeit; Bd. 11), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2006, 397 S., ISBN 978-3-03910-850-3, EUR 47,60
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