Michael Pammer untersucht in seinem Buch "Entwicklung und Ungleichheit" das Privatvermögen der Bevölkerung auf dem Gebiet des heutigen Österreich im Zeitraum von 1820 bis 1913. Der Autor charakterisiert sein Forschungsinteresse wie folgt: "Wachstum und Verteilung werden in den Zusammenhang der Bevölkerungsentwicklung und der Entwicklung des Kapitalmarkts gestellt; unter Verwendung einiger neuer und einiger altbekannter Daten wird versucht, zu einem schärferen, wenn auch nicht einfacheren Bild von Ungleichheit und Entwicklung im österreichischen Fall zu kommen" (16).
Pammer wertet umfangreiche Datenbestände aus; zum Einen publizierte zeitgenössische statistische Materialien, zum Anderen eine Stichprobe von 7.471 Verlassenschaftsabhandlungen, die er als geschichtete Zufallsauswahl erstellt hat. Eine Verlassenschaftsabhandlung findet jeweils nach dem Tod einer Person statt und sie dient dem Zweck, den Übergang des Vermögens auf die Rechtsnachfolger zu regeln. Bis 1850 lag in Österreich die Zuständigkeit bei den Gerichten der Grundobrigkeiten, Städte, Märkte und der landrechtlichen Gerichtsbarkeit, seit 1850 bei den Bezirks- und Handelsgerichten (289). Der Autor hat für seine Datenerhebung die umfangreichen Materialien in acht Landesarchiven und im österreichischen Staatsarchiv aufgearbeitet.
Im Buch folgen nach einleitenden Ausführungen zur Fragestellung Kapitel über demografische Bedingungen, Kapitalmarkt, Wachstum, Verteilung und Vermögensveranlagung, ehe die Ergebnisse in einer knappen Zusammenfassung resümiert werden.
In den allgemeinen Vorüberlegungen zu den Zusammenhängen zwischen Wachstum und Ungleichheit nimmt Pammer Bezug auf die "klassische These über Einkommensungleichheit in wachsenden Volkswirtschaften", die so genannte Kuznets-Kurve (21 ff.). Diese geht davon aus, dass die Einkommensungleichheit in frühen Stadien modernen Wirtschaftswachstums zu- und später wieder abnimmt.
Das umfangreiche Demografie-Kapitel basiert im Wesentlichen auf Daten der amtlichen Statistik, die Pammer in aufwändigen Berechnungen aufbereitet. Mittels Regressionen auf die Zeit schätzt er Koeffizienten für die Entwicklung der Bevölkerung insgesamt und in den einzelnen untersuchten Kronländern. In den Alpenländern insgesamt stieg das jährliche Bevölkerungswachstum von etwa 0,4 Prozent um 1830 auf 1 Prozent vor dem Ersten Weltkrieg. In regionaler Hinsicht war das Wachstum recht unterschiedlich ausgeprägt. In Oberösterreich lag es um 1830 lediglich bei 0,04 Prozent und stieg auch bis zur Jahrhundertwende nur auf etwa 0,5 Prozent an. Die Bevölkerung der Metropole Wien hingegen nahm bis 1890 jährlich um 1,74 Prozent zu, danach im durch Eingemeindungen vergrößerten Stadtgebiet sogar um 2,03 Prozent. Auch im Bevölkerungswachstum der Landeshauptstädte spiegelte sich die Urbanisierungstendenz wider.
Des Weiteren gibt Pammer die Entwicklung der Altersstruktur sowie der Anteile von Gruppierungen, gegliedert nach Merkmalen (bzw. deren Ausprägungen), wie Geschlecht, sektorale Zugehörigkeit, Beruf etc. an. Zum Beispiel ist der Anteil der landwirtschaftlich Selbstständigen an der Gesamtbevölkerung der Alpenländer von 1830 bis 1910 von 13,6 auf 8,9 Prozent zurückgegangen. Im gleichen Zeitraum hat sich der Anteil der nichtlandwirtschaftlichen Arbeiter samt beruflosen Angehörigen von 6,1 auf 17,3 Prozent erhöht.
Die detaillierten demografischen Daten werden benötigt, um eine geschichtete Stichprobe der Verlassenschaftsakten adäquat auswerten zu können. Das Demografie-Kapitel nimmt ein Viertel des Haupttextes ein, was beim Lesen einige Geduld erfordert. Manches davon hätte wohl besser in den Anhang gepasst. In einzelnen Fällen kann Pammer die aus der amtlichen Statistik resultierenden Ergebnisse durch eigene Erhebungen korrigieren. Zum Beispiel wird in den Volkszählungen offenbar der Anteil an selbstständigen Frauen in der Landwirtschaft unterschätzt (77).
Die Ausführungen zur Kapitalmarktentwicklung unterscheiden sich wohltuend von manchen narrativen Darstellungen, in denen oft unkritisch irrige zeitgenössische Topoi tradiert werden. Pammer gibt sachlich und unter Heranziehung einer dichten Datenbasis einen Überblick über die Entwicklung der Anlagemöglichkeiten in Staatsschulden, sonstige öffentliche Schulden, Prämienschuldverschreibungen und Unternehmensschulden von 1820 bis 1913. Besonders stark nahmen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Sparguthaben zu. Die damals vermehrt entstehenden Sparkassen und Kreditgenossenschaften boten eine niedrigschwellige und sichere Anlagemöglichkeit für kleine und kleinste Beträge. Ab den 1890er-Jahren gewannen die Anlagen in Industriewerten relativ an Stellenwert. Der Anteil der Staatsschulden ging hingegen von 54 Prozent der berücksichtigten Anlageformen im Jahr 1879 auf 38 Prozent (1912) zurück (Tabelle 39; 171). Die Zinserträge insgesamt wiesen von 1820 bis 1913 eine fallende Tendenz auf. Das detaillierte Kapitalmarktkapitel erweist sich als Fundgrube, auch für Leserinnen und Leser, die nicht primär am Hauptthema des Buches interessiert sind.
Ab dem Kapitel über das Vermögenswachstum basieren die Ausführungen hauptsächlich auf Auswertungen der vom Autor erstellten umfangreichen Stichprobe aus den Verlassenschaftsabhandlungen. Einleitend referiert Pammer die Diskussion zum Wirtschaftswachstum in Österreich bis 1914, ehe er ab Seite 183 ff. eigene Schätzungen des Vermögenswachstums präsentiert. Um Vergleiche nach verschiedenen Merkmalsausprägungen durchführen zu können, schätzt Pammer Koeffizienten für zahlreiche Variablen. Neben den metrisch skalierten Variablen Jahr, Alter und Alter2 verwendet er diverse Dummy-Variablen für verschiedene Berufsgruppen und Regionen. Derlei Schätzungen führt er zuerst für die Alpenländer insgesamt und anschließend für Niederösterreich mit Wien, Oberösterreich, Salzburg Steiermark, Kärnten, den Handelskammerbezirk Innsbruck und Vorarlberg durch. In räumlicher Hinsicht ergibt sich, dass sich der Wert der Vermögen in Oberösterreich nicht signifikant von jenen in Niederösterreich (ohne Wien) und Vorarlberg unterschied, während er in den anderen Kronländern niedriger war. (186 und 190). Der Vergleich der Berufsgruppe erbrachte naheliegende Ergebnisse: Kleinhandwerker besaßen signifikant weniger Vermögen als Angehörige der Referenzgruppe Selbstständige in Handwerk und Handel. Ebenfalls geringe Vermögen waren Auszüglern [1], kleinen Angestellten und Beamten sowie Unterschichtenangehörigen zuzuordnen. Keine signifikanten Unterschiede zur Referenzgruppe wiesen höhere Beamte, Klerus, Freiberufler, und Privatiers auf, letztere allerdings mit einem großen positiven Koeffizienten. Signifikante, große Unterschiede wiesen die Unternehmer auf, aber auch Bauern verfügten über signifikant mehr Vermögen als die Referenzgruppe. Insgesamt wuchs das durchschnittliche, reale Vermögen um 1,2 Prozent pro Jahr.
Im fünften Kapitel wird der Ungleichverteilung der Vermögen nachgegangen. Der Gini-Koeffizient lag in den Jahren zwischen 1830 und 1910 stets über 0,8, was auf eine stark ausgeprägte Ungleichheit hinweist. Pammer unterscheidet zwischen der Ungleichheit innerhalb der untersuchten Gruppen, zwischen den Durchschnittsvermögen dieser Gruppen und der überlappenden Vermögensverteilung verschiedener Gruppen (201 ff.). Besonders ausgeprägt erscheint die Ungleichheit am Anfang und in den letzten Jahrzehnten des Untersuchungszeitraums. 80 bis 90 Prozent der Ungleichheit gehen auf die Ungleichheit zwischen den Berufsgruppen (Mittelwertunterschiede) zurück. Sektorale Verschiebungen erklären den Trend zu mehr Ungleichheit ab der Jahrhundertmitte sowie den leichten Rückgang ab den 1880er-Jahren. Abwanderung agrarischer Unterschichten bewirkte nunmehr einen Rückgang der Ungleichheit im Primärsektor, der die Gesamtzunahme an Ungleichheit überwog.
Nachdem im Kapitel 3 der Kapitalmarkt von der Nachfrageseite her dargestellt wurde, wendet sich ihm Pammer im sechsten Kapital noch einmal von der Angebotseite zu. Hier geht er der Frage nach, wie die Anleger die zur Verfügung stehenden Anlagevarianten genutzt haben und "welche Umstände dabei wirksam wurden" (223 ff.). Unterschieden werden Spareinlagen, Girokonten, Anleihen, Unternehmensbeteiligungen (bei persönlicher Haftung), Beteiligungen an Kapitalgesellschaften, private Forderungen, Realitäten, Mobilien, Edelmetall und Geld.
Girokonten und Sparguthaben sind im Laufe des 19. Jahrhunderts im Zuge der Entwicklung entsprechender Institutionen häufiger geworden. Wertpapiere blieben weitgehend großen Vermögen vorbehalten. Weder der oft anekdotenhaft wiedergegebene Befund, dass sich an der Börsenspekulation bis 1873 in großem Ausmaß auch kleinste Vermögen beteiligt hätten, noch die immer wieder zu findende Ansicht, dass in der danach folgenden "Großen Depression" eine mit irrationaler Risikoscheu zu erklärende Abwendung von Aktien und Industrieanleihen stattgefunden habe, wird von Pammers empirischer Untersuchung bestätigt.
Die Zusammenhänge zwischen der Struktur der Vermögensanlagen und einzelnen erklärenden Faktoren beschreibt Pammer mithilfe von binomialen Logit-Modellen. Als wichtigste Determinante für den individuellen Anlagemix identifiziert er die Größe des jeweiligen Vermögens. Je größer die Vermögen, umso häufiger findet man Anlagen in Aktien und Anleihen. Einige Vermögensarten waren auch von rechtlichen und kulturellen Rahmenbedingungen, wie etwa dem Erbrecht beeinflusst. Während Bauern naheliegender Weise überwiegend Immobilienbesitz ihr Eigen nannten, besaßen Auszügler und angehörige der landwirtschaftlichen Unterschicht häufig Privatforderungen (die jedoch wohl vielfach kaum liquidierbar waren).
Im Resümee hebt Pammer hervor, dass die Reichtümer der Bevölkerung in den Alpenländern vom Vormärz bis zum Ersten Weltkrieg real auf mehr als das Doppelte gewachsen sind. Die Ungleichheit der Verteilung nahm bis zur Jahrhundertmitte etwas ab, danach wieder zu und um 1900 erneut ab. Dieses Gesamtmuster resultiert jedoch aus mehreren Teilentwicklungen. Wirtschaftswachstum, demografische Entwicklungen, sektoraler Wandel und Änderungen in der Vermögensverteilung waren in vielfältiger Weise mit Veränderungen in der Vermögensstruktur verbunden. Vermögende Gruppen erwiesen sich im Vermögenszuwachs als bevorzugt. Der relative Rückgang des relativ egalitären Primärsektors bewirkte eine Zunahme der Ungleichheit. Die den wachsenden Sektoren zuzurechnenden Gruppen investierten überproportional in Finanzanlagen.
Insgesamt tragen Pammers empirische Untersuchungen anhand des Fallbeispiels der österreichischen Alpenländer zu einer Differenzierung der Kuznets'schen Annahmen von zu- und wiederum abnehmender Ungleichheit im Zuge modernen Wirtschaftswachstums bei. Komplexe, einander überlagernde Prozesse führen zu Abläufen, die im Gesamteffekt weniger eindeutig sind.
Auf der Grundlage der systematischen Auswertung seiner neu erhobenen, umfangreichen Datenbasis von beinahe 7.500 Verlassenschaftsabhandlungen vermag der Autor Ergebnisse, die bisher im Wesentlichen nur intuitiv als plausibel formulierbar waren, erstmals zu quantifizieren. In diesem Sinne bietet das Buch wertvolle neue Informationen zur Vermögens- und Kapitalmarktentwicklung in Österreich und es wird daher zweifellos für weitere Arbeiten in diesem Forschungsbereich zum Kernbestand der zu verwendenden Literatur gehören.
Anmerkung:
[1] Ehemalige Bauern, die den Besitz gegen Zusicherung einer Altersversorgung ("Ausnahme") übergeben haben.
Michael Pammer: Entwicklung und Ungleichheit. Österreich im 19. Jahrhundert (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte; Beiheft 161), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2002, 318 S., ISBN 978-3-515-08064-4, EUR 60,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.