Zwischen 1971 und 1982 trafen sich die Parteichefs der Ostblockstaaten fast jeden Sommer auf der Krim. Die Gespräche, die zwischen 1971 und 1973 im multilateralen Rahmen geführt, 1974 und 1975 aber ausgesetzt wurden, fanden nach 1976 nur noch in Form von bilateralen Spitzentreffen zwischen den jeweiligen Parteichefs und Leonid Breschnew statt. Auf Grund der zentralen Bedeutung der ostdeutsch-sowjetischen Beziehungen für die Innen- und Außenpolitik der DDR stellen die Aufzeichnungen über diese Zusammenkünfte zweifellos wichtige Quellen dar. Sie sind von der Forschung bereits ausgewertet worden; eine Edition dieser im SED-Archiv überlieferten Dokumente lag bisher aber nicht vor.
Diese Lücke möchten Hans-Hermann Hertle und Konrad Jarausch mit ihrer Dokumentation schließen. Ausgewählt wurden freilich nur die "bilateralen" Krimtreffen, ohne auf deren Vorgänger von 1971, 1972 und 1973 näher einzugehen. Zusätzlich wurden Niederschriften von Gesprächen zwischen Breschnew und Honecker in Moskau am 18. Juni 1974 und am 6. Oktober 1975 aufgenommen, die, so die Herausgeber, "einen Vorlauf für die späteren Treffen bildeten" (64). Eine nähere Begründung für die Auswahl dieser Dokumente wird nicht geliefert. Das zweite Gespräch erscheint auf Grund des Anlasses - die Unterzeichnung des ostdeutsch-sowjetischen Vertrages - und der Zusammensetzung der beiden Delegationen sehr viel stärker von dem Rahmen der "Krimtreffen" abzuweichen, sodass sich die Frage stellt, warum hier nicht z. B. die Aufzeichnung des Gesprächs vom 17. Juni 1975 gewählt wurde. Von den anderen Begegnungen ist, worauf einleitend verwiesen wird, jene von 1976 bereits komplett dokumentiert worden; die Herausgeber haben jedoch offenbar übersehen, dass zu den Treffen von 1974 und 1981 Teilabdrucke in anderen Editionen existieren. [1] Zu dem Treffen von 1977 lagen nur Ausführungen über die Äußerungen Breschnews, zu dem von 1980 lag überhaupt kein Dokument vor, sodass hier versucht wurde, den Gesprächsinhalt anhand anderer Quellen zu rekonstruieren.
Die Dokumente, so die Herausgeber, machen deutlich, "daß die 'Risse im Bruderbund' bereits Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre entstanden" (12). In der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre habe es sich noch um "Erfolgsgespräche" (21) gehandelt: Damals hätten sich beide also vor allem mit den eigenen Erfolgen gebrüstet und den jeweils anderen zu seinen - meist ökonomischen - Leistungen beglückwünscht. Eine Ausnahme bildete vor allem die sowjetische Landwirtschaft, die nach den Ausführungen Breschnews stets ihre Schwierigkeiten mit dem nicht planbaren Wetter hatte. Doch auch die außenpolitischen Erfolge - die weltweite Anerkennung der DDR und die Stärkung des kommunistischen Lagers - wurden gefeiert, wenngleich sich ab 1976 bereits einzelne Misstöne in das gegenseitige Einvernehmen mischten. So war Breschnew stets äußerst skeptisch mit Blick auf die zunehmende "Verstrickung des SED-Regimes in den Netzen der Bonner Ostpolitik" (32). Seit 1979 bezeichnen Hertle und Jarausch die Treffen als "Krisendialoge" (34). Zwar versuchte Moskau mit der Invasion Afghanistans noch einmal, Stärke zu demonstrieren; in dem nun aufbrechenden zweiten Kalten Krieg wurde jedoch immer deutlicher, dass der weltweite sowjetische Einfluss im Schwinden begriffen war. Hinzu kamen immer offenere Auseinandersetzungen in den sowjetisch-ostdeutschen Handelsbeziehungen, die in der Reduzierung der jährlichen sowjetischen Rohöllieferungen von 19 auf 17 Mio. Tonnen im Jahre 1982 kulminierten. Infolgedessen sah sich Ost-Berlin genötigt, die Beziehungen zu Bonn zu pflegen, da Honecker sich hier die nötige wirtschaftliche Entlastung versprach. Dies wiederum verstärkte das sowjetische Misstrauen gegenüber der DDR-Führung erheblich.
Diese hier knapp skizzierten Ausführungen der Einleitung sind schon seit längerem bekannt. Übersehen haben die Herausgeber, dass es mit Blick auf die deutsch-deutschen Beziehungen schon 1975 und 1978 zu Konfrontationen zwischen Moskau und Ost-Berlin kam: In beiden Fällen ging es um deutsch-deutsche Verkehrsvereinbarungen, die Moskau am liebsten verhindert hätte. Honecker hielt jedoch an seinen Vorhaben fest und konnte die Vereinbarungen gegen den sowjetischen Willen durchsetzen. Da dies weder von Breschnew noch von Honecker in den Krimgesprächen thematisiert wurde, entsteht nach der Lektüre der Einleitung ein vielleicht zu ungetrübtes Bild der ostdeutsch-sowjetischen Beziehungen vor 1979. Es handelt sich bei den dokumentierten Gesprächen insgesamt nicht um "Schlüsseldokumente", wie etwa das Protokoll der Begegnung zwischen Honecker und ZK-Sekretär Konstantin Russakow vom 21. Oktober 1981, in dem dieser den Beschluss mitteilte, die Rohöllieferungen an die DDR ab 1982 um 2 Mio. Tonnen zu kürzen.
Die Dokumentation der Gespräche ist insofern verdienstvoll, als hier nachzulesen ist, wie ritualisiert die Kommunikation bei diesen Gelegenheiten war. Auch in den Urlaubsgesprächen der beiden Generalsekretäre kam so etwas wie eine lockere Gesprächsatmosphäre nicht auf; meistens handelte es sich um mehrere aneinander gereihte Monologe und nicht um echte Dialoge. Die Dokumente geben des Weiteren einen Einblick in die Wahrnehmung der internationalen und der jeweils eigenen Situation. Zwar werden bisweilen auch eigene Probleme thematisiert; insgesamt erscheinen diese jedoch als weitaus geringer als die der krisengeschüttelten "kapitalistischen" Staaten. Die kommunistische Ideologie prägte folglich die Wahrnehmungsmuster der sowjetischen und der ostdeutschen Führung noch bis weit in die Achtzigerjahre.
Abschließend sei noch auf eine interessante Neuentdeckung und eine Fehlinterpretation verwiesen. Zum einen beziehen sich Hertle und Jarausch einleitend auf bisher unbekannte Geheimstudien Mielkes aus den Jahren 1980 und 1982, denen zufolge die Sowjetunion den Löwenanteil der DDR-Westschulden in Höhe von 20 Milliarden Valutamark übernehmen sollte; im Gegenzug würde die DDR ihren Westhandel weitgehend einstellen und in die Sowjetunion umleiten. Auf diese Weise hätte ein Bruch mit der Sowjetunion zwar vermieden werden können; diese Überlegungen waren indes angesichts der desolaten sowjetischen finanziellen Situation illusorisch. Zum anderen sehen die Herausgeber in der Erhöhung des Zwangsumtauschs vom Oktober 1980 und in den so genannten "Geraer Forderungen" Honeckers eine "unmittelbare Folge des Krim-Treffens 1980" (196). Da das Protokoll dieses Treffens nicht auffindbar ist, kann hier also nur mit Indizien gearbeitet werden. Ein wichtiges Indiz, das hier nicht beachtet wurde, ist die Äußerung Mielkes gegenüber Stoph, derzufolge diese Schritte gerade "nicht auf die Breshnew-Kritik von der Krim zurückzuführen" seien. Vielmehr seien Honecker "die Ereignisse in Polen in die Knochen gefahren. Er hat Angst, daß es in der DDR auch zu Schwierigkeiten kommt; er fürchtet den Einfluß der BRD!" [2]
Anmerkungen:
[1] Dok. Nr. 178 in: Dokumente zur Deutschlandpolitik VI. Reihe/Bd.3, München 2005, 621-630; Dok. Nr. 66 in: Michael Kubina/Manfred Wilke (Hg.), "Hart und kompromißlos durchgreifen". Die SED contra Polen 1980/81. Geheimakten der SED-Führung über die Unterdrückung der polnischen Demokratiebewegung, Berlin 1995, 331-336.
[2] Notiz Krolikowskis über ein Gespräch zwischen Stoph und Mielke am 13.11.1980, in: Peter Przybylski (Hg.), Tatort Politbüro. Die Akte Honecker, Berlin 1991, 347.
Hans-Hermann Hertle / Konrad Jarausch (Hgg.): Risse im Bruderbund. Die Gespräche Honecker-Breshnew 1974 bis 1982, Berlin: Ch. Links Verlag 2006, 273 S., ISBN 978-3-86153-419-8, EUR 24,90
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