Pierre de L'Estoiles tagebuchähnliche Aufzeichnungen gehören seit jeher zu den klassischen Quellen der französischen Geschichte aus der Zeit der französischen Religionskriege. L'Estoile, aus einer Juristenfamilie stammend, grand audiencier in der chancellerie de France und eng mit den Pariser Kreisen des Parlaments und der königlichen Regierung verbunden, figuriert herkömmlich als ein Vertreter der 'Politiques', der in Paris sorgfältig alle Vorkommnisse und Merkwürdigkeiten, die ihm zu Augen und Ohren kamen, notierte. L'Estoile teilte seine Aufzeichnungen in ein 'Registre' für die Regierungszeit Heinrichs III. (1574-1589) und eines für die Regierungszeit Heinrichs IV. (1589-1610) ein. Das erstere ist in zwei Manuskriptexemplaren in der Bibliothèque Nationale überliefert und wurde nach mehreren früheren Editionen [1] zwischen 1992 und 2003 in sechs Bänden von Madeleine Lazard und Gilbert Schrenck neu herausgegeben, von denen der abschließende hier zu besprechen ist.
Die Jahre 1588-90 stellten einen absoluten Kulminationspunkt der französischen Religionskonflikte zwischen den Royalisten, der katholischen Liga und den Hugenotten dar. [2] Die dicht gedrängte Hauptereigniskette setzte am 12. Mai 1588 mit der schon von den Zeitgenossen so genannten 'Journée des barricades' ein: die Ligisten, die in Paris die Oberhand hatten, polemisierten schon länger gegen Heinrich III., weil dieser versuchte, sich von der Adelspartei der Guise unabhängig zu halten und ein Netzwerk von Klientel-Adligen aufzubauen. Dieses System der 'favoris' und 'mignons' [3] war den so partiell vom innersten Machtzirkel des Hofs verdrängten Guise ein Dorn im Auge, die zu ihrer Unterstützung den 'peuple' von Paris mobilisierten. Am 12. Mai verbarrikadierten Anhänger des Herzogs Heinrichs von Guise die Straßen und zwangen so den König zur Flucht aus seiner Hauptstadt (31-39). Die ligistische Bürgerschaft koalierte mit den ligistischen Hochadligen. Sie ersetzten systematisch die städtischen Beamten (41, 43, 56f.) und schworen sich (59f.) und das Volk durch flammende Predigten auf die Liga-Ziele ein.
Der König war in dieser Situation zunächst gezwungen, mit dem Unionsedikt (15./21.7.1588) formal der Liga als ihr Haupt beizutreten, insbesondere aber allen ihren Forderungen nachzugeben: er versprach die Ausrottung der Häretiker, den Ausschluss Heinrichs von Navarra von der Thronfolge, Ungnade für seinen Hauptfavoriten, den Herzog von Épernon, sowie das Amt eines Generalleutnant des Königreichs für den Herzog von Guise (61f.). Während der nun folgenden Generalstände von Blois (Eröffnung am 16.10.1588, 77f.) rächte sich Heinrich III. an den Guise für diese Schmach des Pariser Aufruhrs und ließ den Herzog und den Kardinal von Guise am 23./24.12.1588 umbringen (86-90). In Paris nahm auf die Nachricht des Guise-Mords der Aufruhr gegen den König revolutionsartige Züge an; die Mitglieder des höchsten Gerichtes des Landes, des Pariser Parlements, wurden gefangen oder unter Druck gesetzt (133-135, 137-139), die Sorbonne erklärte im Januar 1589 alle Untertanen ihrer Gefolgschaftspflicht gegenüber dem König für ledig (140f.); das nächste Mitglied der Guise-Familie, der Duc de Mayenne, wurde, gleichsam als Königsersatz, als Haupt der Liga zum 'lieuténant général de l'état royal et de la couronne de France' ernannt (154f.). Der König war in dieser Lage machtpolitisch gezwungen, sich mit Heinrich von Navarra und seinen Hugenotten im 'Traité des deux rois' (3.4.1589) zu verbinden (172-174) und wurde durch diese Koalition mit den 'Häretikern' umso mehr zum verhassten Feind der Liga. Am 1.8.1589 beging ein fanatisierter Jakobinermönch ein Attentat auf Heinrich III. (203-207). Noch auf dem Sterbebett schwor er den Hof, die königliche und die hugenottische Armee auf Heinrich von Navarra als neuen König Heinrich IV. ein (205), während die Liga den seit dem Guise-Attentat eingesperrten Kardinal von Bourbon als Charles X. zum König erklärte (208).
In diesen umwälzenden Ereignissen beobachtete L'Estoile unter starker, oft ironischer Markierung der Distanz zum ligistisch aufgepeitschten "peuple de Paris" (17, 34, 49, 57, 147, 157) und zu den Anführern der Liga selbst. L'Estoile betonte immer, dass die Bezeichnung "politique", die auch auf ihn angewandt wurde, ein beleidigender Begriff seitens der Ligisten war (61, 184, 202), er diskreditierte immer wieder den ligistischen Aufruhr, für den die Religion nur noch Vorwand wäre ("prétexte", 31, 47), ja mehrfach interpretierte er antiklerikale Exzesse im Rahmen der Gewaltereignisse als Beweise, dass gerade bei den Ligisten, die sich ständig in Prozessionen und Schwüren als Gotteskrieger ausgaben, der "athéisme" herrschte (31, 172, 198); die religiöse Verzückung wäre durchmischt mit magischen Praktiken bis hin zu dem, was wir heute 'Woodoo'-Zauber nennen würden (139f.); Prozessionen, die aus Devotion nackt nur mit Büßerhemd bekleidet von Frauen und Männern ohne Geschlechteraufteilung durchgeführt wurden und für deren Durchführung nachts der "peuple" die Priester eigens aus dem Schlaf auf die Straße zerrte, interpretierte L'Estoile bürgerlich-ethisch als Vorwände für nächtliche sexuelle Freizügigkeiten, die zu Schwangerschaften geführt hätten (145). Bei den wenigen in Paris verbliebenen und nun hingerichteten Hugenotten nahm der Calvinistenzögling L'Estoile hochachtungsvoll ihre Standhaftigkeit im Leid, die Belesenheit und Disziplin auch bei Frauen wahr (14f., 23f., 56, 180, 193-197).
Er stand in Kontakt mit Hugenotten und erhielt von diesen immer wieder Kopien, etwa von Gedichten Théodore de Bèzes auf den Untergang der Armada oder über die Einnahme Saluzzos, die er seinem Text beifügte (67-70, 81). Umgekehrt stand er auch weiter im Kontakt mit eifrigen Ligisten, die ihm umgekehrt ihre Sonnette zukommen ließen und deren Integrität "abgesehen von ihrer Qualität als Ligist" er hervorhob (112). Verbindendes Element über die Grenzen der verhärteten politisierten Religionsfeindschaften hinweg waren Literatur- und Wissensformen, war das, was "curieux" (175) war, waren das Lachen, Ironie und - z.T. tief sarkastischer - Humor inmitten der aufgepeitschten Ideologeme (vgl. 184f.). Er selbst sammelte eifrig alle Texte, die von den verschiedenen Fraktionen, insbesondere natürlich von den Ligisten, ausgestreut und gedruckt wurden - allein bis April 1589 über 300 Drucke - die er in vier dicken Bänden samt einem großen Band, mit "figures" (also Zeichnungen, Flugblätter, Kupferstiche) zusammenband (175), um der Nachwelt zu zeigen, was dieses "große Monster der Liga" produzierte.
L'Estoile war Royalist - bei aller Kritik an höfischen Eskapaden der mignon-Kultur -, war Vertreter der überkommenen Ordnung im Hinblick auf ständische und bildungselitäre Schichtdifferenzen. Die Liga führte für ihn zum "Ruin" des Staates und aller Disziplin. Diese Ordnung war ihm gottgegeben und Gott geschuldet; daher war der coup de majesté Heinrichs III. gegen die Guise für ihn "Urteil" und "Rache Gottes" gegen diese "mörderische Familie" (39, 86, 89), die Vernichtung der spanischen Armada 1588 genauso wie im Jahr zuvor die des deutschen prohugenottischen Hilfsheers unter Fabian von Dohna waren direktes Wirken des "Fingers Gottes" (67). Die Ermordung Heinrichs III. schließlich deutete er ebenfalls als wundersames Werk Gottes, der so durch die Hand des ligistischen Mörders ausgerechnet deren größten Feind, Heinrich von Navarra, zur Thronfolge berufen hatte - auf ihn setzte L'Estoile in den letzten Zeilen seines Registre des Jahres 1589 alle seine Hoffnung (209).
Die Aufzeichnungen L'Estoiles bieten eine faszinierende Lektüre: zum einen schon wegen der Enormität der berichteten Ereignisse, seien es Details aus dem turbulenten Pariser Alltag der Zeit, seien es die Umwälzungen auf höchster politischer Ebene samt ihrem Echo in der Pariser Öffentlichkeit. Zum anderen aber fragt jeder Leser im Fortgang der Lektüre mehr und mehr nach dem notierenden Beobachter L'Estoile selbst: aus welcher Position sprach er? Welche Prägungen wirkten sich in seiner Augenzeugenschaft aus? Was waren seine Ziele für das Notat? Schon die eigenwillige, z.T. poetische, an gelehrten Anspielungen und Wortspielen reiche, z.T. aber auch eng an die 'niedersten' Regionen der flottierenden Mündlichkeit der Pariser Straßen anschließende Sprache verweist auf ein Ego, dessen Ausdruckskraft es ihm erlaubte, uns in einem hohen Maße die Möglichkeitshorizonte und Grenzen von 'Individualität' im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts zu überliefern - auch wenn dieses "Ich" selbst selten als Figur der Handlung auftaucht.
Die Neuedition von Lazard/Schrenck ermöglicht der historischen Forschung durch die sorgfältige Textgestaltung, den kritischen Apparat, insbesondere durch die erläuternden Anmerkungen, die immer auch auf die aktuelle historische aber auch sprach- und literaturwissenschaftliche Forschungsliteratur Bezug nehmen, sowie durch sehr detaillierte Indices einen gesicherten Zugriff auf diese nicht einfach zu erschließende, aber zentrale Quelle der Religionskriegszeit.
Anmerkungen:
[1] Die Edition der Mémoires von 1875-1899 durch Robert Merle ist inzwischen digitalisiert und unter http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k25722t/f1.table (gesehen am 15.12.2006) frei zugänglich.
[2] Das zeigt auch die Wahrnehmung des Konflikts in Deutschland: nie wurden mehr Flugschriften mit Bezug auf die französischen Religionskriege gedruckt als 1589, vgl. Cornel Zwierlein: Discorso und Lex Dei. Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahrhundert und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege, Göttingen 2006, 647.
[3] Vgl. Nicolas Le Roux: Le faveur du roi. Mignons et courtisans au temps des derniers Valois (vers 1547 - vers 1589), Paris 2000.
Madeleine Lazard / Gilbert Schrenck: Pierre de l'Estoile. Registre-journal du règne de Henri III, Tome VI (1588-1589) (= Textes littéraires français), Genève: Droz 2003, 349 S., ISBN 978-2-600-00850-1, EUR 42,20
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