Das Wort "Fahrkultur" klingt nach einer dieser inhaltsleeren Hülsen aus der Werbesprache. Dass sich dahinter ein analytisches Konzept verbergen kann, das eine Kulturgeschichte im besten Sinne trägt, erfährt der Leser aus der beeindruckenden Studie "The Electric Vehicle" des niederländischen Technikhistorikers, Literaturwissenschaftlers und Ingenieurs Gijs Mom. Er wendet sich darin gegen die lange Zeit vorherrschende Vorstellung, dass der Elektroantrieb im Automobilbau schon auf Grund technischer Defizite zum Scheitern verurteilt war. Nicht eine technische, sondern eine kulturelle Überlegenheit gab Mom zufolge den Ausschlag für den Siegeszug des Verbrennungsmotors. Diese Einschätzung deckt sich mit wichtigen Erträgen der neueren Forschung, die der Kultur des frühen Automobilismus ebenfalls erhebliche Bedeutung für die Durchsetzung des neuen Verkehrsmittels zugemessen hat. [1] Mom nutzt nun das Beispiel der Antriebsalternativen, um diesen komplexen Prozess mit größerer Tiefe, Präzision und Differenziertheit zu durchdringen. Gerade weil er den kulturellen Faktoren dabei ein so großes Gewicht beimisst, erfahren auch technische Probleme und Details eine sehr eingehende Behandlung, muss er doch nachweisen, dass nicht sie die Schuld am fehlenden Markterfolg trugen. Um seine These zu belegen, verfolgt er die Geschichte des Elektroantriebs in fünf Ländern über einen Zeitraum von mehr als 40 Jahren hinweg und bezieht nicht nur Personenwagen, sondern auch andere Fahrzeugtypen wie Taxis, Lastwagen oder Feuerwehrautos in seine Untersuchung ein. Seine Ergebnisse stützen sich dabei durchweg auf eine immense Fülle an Quellenmaterial.
Am Ende des 19. Jahrhunderts mochten aus der Sicht der Zeitgenossen viele Gründe dafür sprechen, dass dem Elektroauto die Zukunft gehören würde. Aus dem elektrischen Straßenbahnbetrieb stand ein Motor zur Verfügung, der auch nach der notwendigen Verkleinerung zuverlässiger, komfortabler und deutlich leiser arbeitete als die entsprechenden Verbrennungsmotoren. Außerdem ging man nach der erfolgreichen Elektrifizierung der städtischen Infrastruktur überwiegend davon aus, dass das 20. Jahrhundert insgesamt durch die Elektrizität geprägt sein würde. Es muss deshalb nicht unbedingt verwundern, wenn sich Elektroautos um die Jahrhundertwende für kurze Zeit auf dem amerikanischen Markt am besten verkauften. Vor den Benzinern rangierten hier sogar noch die dampfgetriebenen Fahrzeuge, während die Reihenfolge in Europa genau andersherum verlief. Nur zwei Jahre später lagen jedoch auch in den USA die Benzinautos in der Gunst der Käufer vorn. Doch wie lässt sich dieser scheinbar unaufhaltsame Siegeszug erklären?
Mom hebt hervor, dass für die ersten Käufer der unmittelbare Gebrauchswert ihrer Automobile nicht im Vordergrund stand, stattdessen verstanden sie diese in Anknüpfung an die Fahrradkultur als "Abenteuermaschinen", mit denen es technische, mentale und sportliche Herausforderungen zu bewältigen galt. Und in genau diesen Feldern konnte der Benzinmotor seine Überlegenheit ausspielen. Er war zwar längst nicht so zuverlässig wie der Elektroantrieb, doch ließ er sich anders als dieser mit etwas technischer Versiertheit selbst reparieren und bot damit nicht so sehr Unannehmlichkeiten als vielmehr zusätzliche Reize. Eine spezielle Verbindung ging das Auto mit dem Neurasthenie- und Dekadenzdiskurs der Jahrhundertwende ein, in dem es bald zu einer Art Heilmittel avancierte. Diesem Verständnis entsprach der "explosive" Charakter des Verbrennungsmotors aber weit mehr als der zahme Elektroantrieb. [2] Sportlich hatten Elektroautos bei Hochgeschwindigkeitsrennen über kurze Strecken zwar zeitweilig die Nase vorn, was ihnen etwa 1899 den prestigeträchtigen Durchbruch der 100-Stundenkilometer-Grenze einbrachte. Auf langen Distanzen konnten sie jedoch nicht mithalten, da die Batterien entweder hohe Geschwindigkeiten oder eine große Reichweite zuließen. Gerade die von einem Massenpublikum besuchten Langestreckenrennen prägten aber immer stärker die prinzipiellen Vorstellungen von Form, Leistungsfähigkeit und Gebrauch des Automobils. Die Hersteller von Elektroautos verlegten sich deshalb überwiegend auf die Konzeption von Fahrzeugen für den Stadtverkehr, in dem die geringere Reichweite bzw. die Abhängigkeit von den Ladestationen für die Batterie nicht so sehr ins Gewicht fiel.
Während Elektroautos bei den privaten Käufern also weniger gut ankamen, weil sie "zu vernünftig" waren, prädestinierte sie diese Eigenschaft für die kommerzielle Nutzung. Ihr Einsatz in den ersten kurzlebigen Taxiunternehmen von London, Paris und New York verlief zwar keineswegs ohne zahlreiche technische Komplikationen, doch Benzinautos kamen zu diesem Zeitpunkt als Alternative auf Grund ihrer größeren Reparaturanfälligkeit noch weniger in Frage. Damit blieb die Pferdedroschke vor der Jahrhundertwende das kostengünstigste und technisch zuverlässigste individuelle Transportmittel in der Stadt. Ab etwa 1905 setzte eine zweite Welle von Unternehmensgründungen im Taxigeschäft ein, bei der nun auch Benzinautos in Dienst gestellt wurden. Mom arbeitet an diesen Beispielen überzeugend die vielfältigen technischen, betriebswirtschaftlichen und kommunalpolitischen Faktoren heraus, die über Erfolg oder Misserfolg entschieden. Während bei den Benzinern unter Umständen auch ein einzelner Wagen im Zwei-Mann-Betrieb gewinnbringend arbeiten konnte, setzte der Erfolg bei den Elektroautos stets eine größere Fahrzeugflotte mit systematischem Management voraus. Geräuscharmut, Geruchlosigkeit und geringere Geschwindigkeiten veranlassten in Deutschland und den Niederlanden jedoch etliche städtische Behörden, Elektrotaxis bevorzugt zu behandeln. Außerdem modernisierten deutsche Städte ihre Fuhrparks häufig mit Elektrofahrzeugen, die etwa zur Straßenreinigung, zum Krankentransport oder zur Brandbekämpfung dienten.
Dennoch setzte sich beim Lastentransport der Verbrennungsmotor in Europa insgesamt recht schnell durch, da das Militär entsprechenden Fahrzeugen Subventionen gewährte, wenn diese im Kriegsfall zur Verfügung standen. Anders lagen die Verhältnisse in den USA, wo noch in den 1920er-Jahren Bäckereien oder Wäschereien in den Großstädten elektrisch angetriebene Fahrzeugflotten unterhielten, die ein unschlagbares Kosten-Nutzen-Verhältnis aufwiesen. Sobald Lastwagen aber in Kleinstädten oder auf dem Land zum Einsatz kamen, Transportkosten eine untergeordnete Rolle spielten oder ein Betrieb nur wenige Fahrzeuge besaß, was die Regel war, entschieden sich die Unternehmer seit Ende des Ersten Weltkrieges fast durchweg für Verbrennungsmotoren.
Das eigentliche Glanzstück der Arbeit findet sich in der "Epilogue" überschriebenen 25-Seiten starken Zusammenfassung, in der Mom seine Einzelergebnisse mit großer Meisterschaft zu einer kohärenten Argumentation zusammenführt. Sie läuft darauf hinaus, dass sich der Kampf der Antriebssysteme letztlich innerhalb der Stadt entschieden habe und widerspricht damit bisherigen Vorstellungen, nach denen vor allem die amerikanischen Farmer dem Benzinwagen zum Durchbruch verhalfen. Doch erst als dieser ein dem Elektroauto vergleichbares Maß an Zuverlässigkeit und Bedienungsfreundlichkeit aufwies, indem er dessen hoch entwickelte Wartungskultur übernahm, lief er auch in der Stadt seiner elektrischen Alternative endgültig den Rang ab. Moms überzeugende Gesamtleistung leidet allerdings etwas unter der übergroßen Fülle an Beispielen und Details, die die Lesbarkeit unnötig beeinträchtigen. Insgesamt liegt mit "The Electric Vehicle" aber ein Werk vor, das uns ein vertieftes Verständnis unserer Mobilitätskultur vermittelt und zugleich eine Demonstration in der Kunst der historischen Argumentation bietet.
Anmerkungen:
[1] Vgl. z. B. Christoph Maria Merki: Der holprige Siegeszug des Automobils 1895-1930. Zur Motorisierung des Straßenverkehrs in Frankreich, Deutschland und der Schweiz, Wien 2002; Kurt Möser: Geschichte des Autos, Frankfurt/M. 2002.
[2] Vgl. dazu zusammenfassend auch Gijs Mom: Civilized Adventure as a Remedy for Nervous Times: Early Automobilism and Fin-de-siècle Culture, in: History of Technology 23/2001 (2003), 157-190.
Gijs Mom: The Electric Vehicle. Technology and Expectation in the Automobile Age, Baltimore / London: The Johns Hopkins University Press 2004, XIII + 423 S., ISBN 978-0-8018-7138-2, USD 54,95
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