Die Sluter-Forschung hat sich in den letzten Jahren vor allem um die Einbettung Sluters in die zeitgenössische Kunst bemüht [1], sowie um die Rekonstruktion der Kartause von Champmol bei Dijon auf Grundlage der Quellen. [2] Michael Grandmontagne hingegen widmet sich in seiner Untersuchung der Lesbarkeit der Skulpturen Claus Sluters und will nachweisen, dass sie, ganz wie eine geistliche Lektüre, dem mystischen Aufstieg der Seele zu Gott dienen sollten.
Das Portal der Kirche wurde ab ca. 1384 von Jean de Marville begonnen und, nach dessen Tod, ab 1389 von Sluter umgestaltet und vollendet. Die penible Beschreibung Grandmontagnes folgt der Bewegungsrichtung des Betrachters und seinem Weg in die Kirche hinein. So sicher, wie der Autor dies jedoch rekonstruiert, ist die Art der Annäherung nicht unbedingt, denn die beiden noch erhaltenen Pläne datieren jeweils nach dem Umbau des Klosters im 18. Jahrhundert, und es ist nicht festzustellen, ob sie diesbezüglich die Situation der Erbauungszeit wiedergeben. Die Rekonstruktion der Annäherung lässt auch unberücksichtigt, dass die Vorhalle erst nach dem Portal erbaut wurde, denn sonst wäre die Errichtung eines Schutzdaches 1409 nicht nötig gewesen. So ist fraglich, ob die Annäherung wirklich von der linken Seite her erfolgte, oder von rechts vom großen Kreuzgang. Auch das ursprüngliche Betrachterniveau ist nicht so klar, wie es der Verfasser glaubt. Er stützt sich auf den Zahlungsbeleg für vier Stufen, jedoch muss man in Betracht ziehen, dass nicht alle Belege für den Bau des Portals erhalten sind, und dass Ansichten des 19. Jahrhunderts mehr Stufen zeigen.
In seinen beschreibenden Analysen erarbeitet der Verfasser ein Konzept eines "statischen" und zugleich "transitorischen" Bildes der Trumeaufigur. Bezüglich der Zuschreibungsdebatte der Konsolen veranlasst ihn vor allem die gemeinsame Flucht der Vorderseiten der Konsolen zu dem Schluss, dass alle vier von Sluter stammen müssen, doch bedenkt er nicht die Möglichkeit der Angleichung Sluters an seinen Vorgänger Marville.
Grandmontagnes Grundthese, dass die "Lesbarkeit" der Skulpturen sowohl visuell als auch literaturgebunden zu verstehen ist, untermauert er mit einer Darstellung der Bedeutung von Lektüre und Meditation im Kartäuserorden, festgemacht beispielsweise an Pseudo-Bonaventuras "Meditationes Vitae Christi" und an Ludolfs von Sachsen "Vita Christi"-Schriften, die im Kartäuserorden grundlegend und nachweislich auch in der herzoglichen Bibliothek vorhanden waren. Interessant ist sein Hinweis, dass 1415 zwei englische Bischöfe für Lektüre zum Beispiel eines Kapitels der Meditationes Vitae Christi einen Ablass von vierzig Tagen gewährten. Als Einzelbeispiel erscheint dies zwar als wichtiges Anzeichen, aber noch nicht als wirklich ausreichende Untermauerung der These des Autors, der Lektüre und das Betrachten von Bildwerken gleichwertig setzt, auch wenn seine anschließende Skizze des Gebrauchs von Bildern im Kartäuserorden als Meditationshilfe dies weiter forcieren will.
Auf der Basis der Betrachtung zeitlich vor Champmol entstandener Portale und verwandter Skulpturenensembles bis hin zu Campins gemalter Scheinskulptur des Gnadenstuhls im Städel versucht Grandmontagne, das Sehen des Portals - das er als ein der Lektüre äquivalentes Lesen verstanden wissen will - auch an diesen Werken nachzuweisen. Bei der Analyse von Sluters Brunnen im großen Kreuzgang, dem so genannten Mosesbrunnen, geht er stillschweigend von der Annahme aus, dass "der Besucher" den Brunnen aus nächster Nähe umschreiten konnte. Inwieweit hier damalige Realität und heutiges Wunschdenken übereinstimmen, muss offen bleiben. Immerhin sollten sich die Mönche laut Regel auf kürzestem Wege zur Kirche begeben und nicht unnötig ihre Zellen verlassen. Außerdem ist der Brunnen bei aller Perfektion im nahsichtigen Detail auch auf Fernsicht angelegt, doch die diskutiert Grandmontagne nicht. Über die tatsächliche Art und den Grad der Annäherung der Mönche an dieses Monument haben wir keine zeitgenössische Information; die späteren Pilger konnte Sluter nicht voraussehen.
Der zweite Teil behandelt die ikonographische Bedeutung des Portals im Sinne von "Denkmalkenntnis und Bildgedächtnis" (275). Dabei konzentriert sich Grandmontagne auf zwei Motive, nämlich das Umfassen der Braut durch Christus und den Kuss der Füße des Jesuskindes. Gestützt auf Bernhards Kommentare zum Hohenlied führt der Autor entsprechende Beispiele ab der Mitte des 13. Jahrhunderts an, die aber keine wortwörtlichen Umsetzungen der Texte sind, wie er selber feststellt (283-284). Hier entfaltet die bildende Kunst ein Eigenleben.
Bei der Frage, auf welches Vorwissen Sluter zurückgreifen konnte, führt der Verfasser byzantinische Marienikonen der Eleousa und Glykophilousa sowie deren Paraphrasen im Umkreis der Valois an. Eine Art Exkurs zu den Mariendarstellungen des Jacquemart de Hesdin verdeutlicht, dass es gar nicht nötig ist, ein bestimmtes byzantinisches Marienbild als Vorbild zu postulieren (322). Insofern bleibt fraglich, ob die Herleitung von byzantinischen Marienikonen tatsächlich im Formenbewusstsein der Stifter verankert war, wie es der Autor postuliert (330).
Im Vergleich mit der Vierge dorée vom Südportal in Amiens und verwandten Statuen geht Grandmontagne schließlich der Frage nach, wieso Sluter bei seiner Trumeaumadonna auf ein Vorbild von ca. 1235/45 zurückgreift. Die Erklärung der "gedanklichen Rundansichtigkeit der Amienser Figur" (340) ist zweifellos ein wichtiger Aspekt. Das Portal von Champmol hat aber eine so vielfältige Bedeutung, die über die zwei von Grandmontagne herausgegriffenen Motive hinausgeht, so dass eine monokausale Begründung nicht ausreicht. Der Autor diskutiert auch nicht, wer das Programm des Portals entworfen hat. Ganz selbstverständlich ist das für ihn Sluter, der offenbar ohne Rücksprache mit dem Prior oder mit geistlichen Beratern des Herzogs das Portal nach dem Tod Marvilles umgestaltet und komplexe theologische Wahrheiten verbildlicht. Die Quellen zum Portal sagen nichts zur Rolle Sluters als Entwerfer bzw. Gestalter des ikonographischen Programms. Auf die belegten Reisen Sluters bzw. des Priors nach Paris, wo sich Herzog Philippe aufhielt, geht der Autor nicht ein.
Die folgenden Ausführungen behandeln nur kurz die eigentliche Ikonographie des Portals, um dann die ikonographische Verbreitung und Tradition eines einzelnen Motivs darzulegen. Das macht ca. ein Drittel des Buchs aus und schlägt einen sehr weiten Bogen. Johannes als Anachoret war für die Kartäuser bekanntlich von besonderer Bedeutung. Die politischen Implikationen der Wahl der Schutzpatrone (Johannes und Katharina) streift Grandmontagne nur in Fußnoten und konzentriert sich stattdessen auf Katharina: Demnach liegt der Hauptgrund für ihre Wahl in ihrem asketischen Lebenswandel, der sie zur Sponsa Christi und zur Verkörperung der "vita contemplativa" machte. Die beiden über einem Buch handgreiflich Streitenden interpretiert er als zwei der 40 bzw. 50 Gelehrten, die sie bekehrte. Beides ist eine neue, mögliche Interpretation.
Die Darbietung des Fußes bzw. der Fußsohle Christi ist das zweite Motiv, das der Autor ausführlich behandelt. Die Vorgehensweise ist dieselbe: Suche nach älteren und verwandten Marienstatuen. Der Bezug zum Epiphaniasfest bleibt wenig überzeugend, weil der konkrete Bezug zur Liturgie fehlt. Der Verweis auf das "monastische Ritual einer Reuehandlung", d.h. die Salbung der Füße Christi durch die als Maria Magdalena identifizierte Sünderin, führt zum Hinweis auf die Passion, die Durchnagelung der Füße. Die Fußwaschung am Gründonnerstag, das in der Liturgie verankerte "mandatum", sowie der Fußkuss bei der Anbetung der Magier sind weitere zu assoziierende Ehrfurchts- und Demutsformen. Wieder referiert der Verfasser Bernhards Predigten zum Hohenlied mit Fuß-, Hand- und Mundkuss im Sinne einer aufsteigenden Gottesschau. Die Diskussion zum Wilton-Diptychon, die auf das Schema der Anbetung der Magier zurückgreift, erörtert verschiedene Gebetshaltungen. Weitere Beispiele vor allem der (Buch-)Malerei des 14. und 15. Jahrhunderts aus Italien und Böhmen bezeugen die weite Verbreitung des Motivs und dessen Kombinationsmöglichkeiten mit anderen ikonographischen Marienmotiven. In der Andachtsliteratur von Bernhard bis hin zur Devotio moderna ist das Motiv in der Anbetung der Magier und in der Passion ebenfalls präsent.
Ein letztes Kapitel behandelt die memoriale Funktion des Portals: die Bildandacht soll in Fürbitten für die Stifter münden, was auch den Beter läutert, so dass alle Beteiligten davon profitieren. Eine markante Zusammenfassung erläutert nochmals die Thesen und Vorgehensweisen.
Insgesamt bietet das Buch im Detail wenig neue Erkenntnisse. Sein Verdienst ist aber, den Zusammenhang von bildender Kunst und Literatur der Zeit wieder stärker ins Bewusstsein zu rufen und anhand eines prägnanten Werkes darzulegen. Das rechtfertigt die sehr ausführliche Darstellung und könnte Anlass sein, auch weitere Kunstwerke dieser Zeit unter diesem Aspekt neu zu betrachten.
Anmerkungen:
[1] Kathleen Morand: Claus Sluter. Artist at the Court of Burgundy, London 1991; Sherry Lindquist: Patronage, Piety and Politics in the Art and Architectural Program at the Chartreuse de Champmol in Dijon, Ann Arbor 1997; L'art à la cour de Bourgogne: le mécénat de Philippe le Hardi et de Jean sans Peur (1364-1419), Ausst.-Kat. Dijon / Cleveland 2004/2005, Paris 2004.
[2] Dana Goodgal-Salem: Sluter et la transformation du portail à Champmol, in: Mémoires de la Commission des Antiquités du Département de la Côte d'or 35, 1987-89; Renate Prochno: Die Kartause von Champmol. Grablege der burgundischen Herzöge, Berlin 2002.
Michael Grandmontagne: Claus Sluter und die Lesbarkeit mittelalterlicher Skulptur. Das Portal der Kartause von Champmol, Worms: Wernersche Verlagsanstalt 2005, 579 S., 141 Abb., ISBN 978-3-88462-216-2, EUR 78,00
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