Wie ist der Bestand der römischen Herrschaft zu erklären, wenn die Stabilität politischer Verbände einerseits auf Integrationsritualen basiere, letztere aber andererseits in Italien auf die urbs Roma beschränkt geblieben seien, wo sich die Mehrheit der Bevölkerung fast nie aufgehalten habe? Mit diesem Paradoxon eröffnen die Herausgeber ihren Sammelband, der eine im Oktober 2004 an der TU Dresden veranstaltete Tagung publiziert.
H. Mouritsen führt vor Augen, wie die Ziele der Italiker in der Retrospektive des Prinzipats und des nationalen 19. Jahrhunderts verzerrt wurden. Nicht Integration, sondern Unabhängigkeit hätten die Italiker erstrebt und seien im Bundesgenossenkrieg sogar zur Vernichtung Roms bereit gewesen. Nur gelegentliche einseitige Überspitzungen reizen zum Widerspruch (165, 296-99).
Nach M. Humm hatten die nach gentes geordneten curiae sowie die ursprüngliche Beschränkung der tribus auf Plebejer und Neubürger eine politische Integration lange behindert. Die konsequente Territorialisierung der tribus sei erst Ende des 4. Jhs. erfolgt.
Den Widerspruch zwischen der alltäglichen Staatsferne der auf dem Lande wohnenden cives Romani und ihrer Unterstützung der römischen Kriegführung sucht B. Linke durch die hoch geschätzte patria potestas aufzulösen. Dass diese aber die Loyalität eines der väterlichen Gewalt unterstehenden Sohnes gesteigert haben soll, ist fraglich. Zutreffend beobachtet Linke dagegen die Zustimmung zur weitgehenden Autonomie des ländlichen Mittelstandes.
J.-M. David erkennt als Hauptmotiv römischer Interventionen zu Gunsten der Alliierten die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung der Senatsaristokratie. Zu diesem Zweck sei auch das Repetundenverfahren etabliert worden.
R. Pfeilschifter beruft sich in seinem Plädoyer gegen eine tiefe Durchdringung Italiens darauf, dass man in Rom nur zufällig von der Aufgabe der Kolonie Buxentum (186 v.Chr.) oder der illegalen Kriegführung des Longinus (171 v.Chr.) erfuhr. Auch die Psychologie des Schweigens selbst unter Gastfreunden und Verwandten besticht: Die \"Möglichkeit des freundlichen beiderseitigen Desinteresses dürfte die römische Herrschaft über lange Zeit wesentlich stabilisiert haben (136).\"
J. Patterson bietet eine solide Übersicht über die grenzüberschreitenden Freund- und Verwandtschaften. Die Zunahme solcher Verbindungen auch unter den Italikern habe eine wichtige Voraussetzung für den Bundesgenossenkrieg gebildet.
H. Schlange-Schöningen vergleicht das Schicksal der Marser und Messapier. Für die ersteren werden angesichts der erlittenen Konfiskationen einerseits der vielfach freiwillige Heeresdienst für Rom, andererseits ihr Interesse an der civitas Romana zwecks Landgewinnung nachvollziehbar.
F. Pina Polo führt Varianten und Ausmaß der von Rom 210-150 v.Chr. veranlassten Um- und Ansiedlungen vor Augen. Informativ sind die regionalhistorischen Perspektiven (Campanien, Ligurien, Süditalien) und tabellarischen Gesamtüberblicke, zu bemängeln indes Ungenauigkeiten hinsichtlich des ius Latii (184, 193-95). Zwar überzeugt die Vermutung, dass jene Bevölkerungstransfers einen großen Beitrag zur Ausbreitung des Lateinischen in Italien geleistet hätten; unklar bleibt aber, inwieweit es zu einer \"Vermischung\" der italischen Völker gekommen sein soll, zumal es Pina Polo ablehnt, von einer \"kulturellen Assimilation\" zu sprechen.
W. Scheidel sucht das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie quantitativ zu erfassen. Auch wenn man seinem \"low count\" von nur rund 5 Mio. Einwohnern Italiens nicht folgt, ergibt sich ein Missverhältnis zwischen Gesamtbürgerzahl und Kapazität der Versammlungsplätze, das er auf 3 bis 10 % der Bürger beziffert. Dagegen steht eine jährliche Rekrutierungsrate von 10 bis 25 % der iuvenes: \"military service provided a much more significant means of contact and integration than participatory political institutions or other civic rituals (222f.).\"
N. Rosensteins Untersuchung zur Geburtenkontrolle und Rekrutierungspraxis führt zu dem Ergebnis, dass nicht der Niedergang des Kleinbauerntums im 2. Jh., sondern die Zunahme der Proletarii bei immer begrenzterem Siedlungsraum in Italien die Agrarkrise verursacht habe.
Gegen eine Überschätzung der Romanisierung der Bundesgenossen im Heer spricht sich angesichts ihrer separaten Einheiten M. Jehne aus. Demgegenüber beschreibt er das komplexe, aber im Aufwand überschätzte Aushebungsverfahren der Bürger als Integrationsritual. Überzeugender ist indes die Annahme, dass diese Wirkung mit der Zunahme der Freiwilligenrekrutierung seit dem 2. Jh. nachgelassen habe.
Laut Vergil fordert Juno und gewährt Juppiter, dass die Latiner bei der Niederlassung der Trojaner Namen, Sprache und Sitten behalten dürften. M. Bettini erklärt dieses Zugeständnis glaubhaft damit, dass der Dichter konsequent zwischen den Latinern als einem Mischvolk und den rein trojanischen Römern unterscheidet.
H. Galsterers Plädoyer für den Wunsch der socii nach der civitas Romana und für ihre zügige Eingliederung nach 90 scheint als alleinige Darstellung zur späten Republik und als Schlusspunkt des ansonsten mehrstimmigen Bandes wenig glücklich gewählt. Dies liegt teils an Ungenauigkeiten, teils an wenig überzeugenden Interpretationen betreffs der Bürgerrechtsgesetze jener Jahre (296f., 300-2). Schließlich werden mit den Bevölkerungsverschiebungen unter Sulla und Augustus, den im Senat klaffenden Lücken und dem vor Actium geschürten Feindbild des \"als dekadent gebrandmarkten Osten\" wesentliche Integrationsfaktoren benannt.
Insgesamt bleibt die Unterstellung, dass außerhalb Roms lebende cives nicht an den Riten der urbs teilgenommen hätten (8-10), zu pauschal. Auch geht die Reflexion des Integrationsbegriffs, der nur plakativ von Partizipation oder Repräsentation abgesetzt wird, nicht weit genug, da indirekt ein fragliches Bild vom Stadtrömer vorausgesetzt wird (8f.). Unausgewogen ist ferner die Auswahl der Themen und Quellengattungen, insofern archäologische, numismatische und epigraphische Zeugnisse zu kurz kommen. Die heterogenen Rechtsverhältnisse Italiens werden durch das dichotome Konzept Zentrum/Peripherie zu sehr nivelliert.
Herausgebern und Autoren gebührt dennoch das Verdienst, bislang unterschätzte Lücken im 'Integrationsraum' Italien beschrieben zu haben. Mouritsen, Linke, Scheidel und vor allem Pfeilschifter zeigen, dass eine geringe politische Partizipation oder Ausbildung staatlicher Strukturen nicht grundsätzlich gegen die Stabilität eines politischen Verbandes sprechen müssen und dass die Belassung eines hohen Autonomiegrades gar eine Effizienzsteigerung bedeuten kann. Aber selbst für die traditionell als soziopolitische Klammern beschriebenen Institutionen Gastfreundschaft, Patronat und Militär legen David, Pfeilschifter und Jehne Aspekte dar, die das Ausmaß der Einbindung der 'Peripherie' ins Zentrum hemmten. Dass eine Homogenisierung Italiens nicht einfach das Produkt der Kolonisation war, sondern weiterhin tiefgreifende regionale und strukturelle Differenzen fortbestanden, zeigen Schlange-Schöningen, Pina Polo und Galsterer.
Im Ganzen stellt der sorgfältig edierte, durch drei Register abgerundete Band eine große Bereicherung der gegenwärtigen Forschungsdiskussion dar.
Martin Jehne / Rene Pfeilschifter (Hgg.): Herrschaft ohne Integration? Rom und Italien in republikanischer Zeit (= Studien zur Alten Geschichte; Bd. 4), Berlin: Verlag Antike 2006, 335 S., ISBN 978-3-938032-11-4, EUR 54,90
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