Walter Mühlhausens monumentaler Studie steht ein Porträtbild Friedrich Eberts aus dem Jahr 1919 voran, unter dem der Reichspräsident handschriftlich seinen Leitspruch vermerkt hat: "Des Volkes Wohl ist meiner Arbeit Ziel". Gegen Ende der über tausendseitigen Darstellung ist ein Foto der letzten Ruhestätte Eberts in Heidelberg zu sehen. Das eben zitierte Motto bildet hier die Inschrift auf dem 1925 errichteten Grabstein. Mühlhausens Werk, das die Reichspräsidentschaft Eberts in den Mittelpunkt stellt, ist insgesamt ein nachdrücklicher Beleg für die Wahrhaftigkeit dieser Worte. Ebert hat sich, fern von persönlicher Eitelkeit und erfüllt von einem hohen Maß an überparteilichem Verantwortungs- und Pflichtgefühl, trotz vielfacher Anfeindungen und Enttäuschungen in unermüdlichem Einsatz für das Wohl der jungen Weimarer Demokratie aufgearbeitet - bis hin zu jener verschleppten Blinddarmentzündung, die ihn am 28. Februar 1925 das Leben kostete.
Während Mühlhausen dem Wirken Eberts als Reichspräsident über 800 Seiten widmet, werden der politische Aufstieg des sozialdemokratischen Arbeiterführers im Kaiserreich sowie seine wichtige Rolle in der Revolutionszeit von 1918/19 auf insgesamt rund 120 Seiten relativ knapp behandelt. Dass die in der Geschichtswissenschaft lange Zeit heftig umstrittene Revolutionsphase bei Mühlhausen nur geringes Gewicht besitzt, ist sicherlich bedauerlich. Allerdings haben sich die historiografischen Kontroversen inzwischen beruhigt. Ebert war weder der heroische "Retter vor dem Bolschewismus" (16), zu dem er in den 1950er-Jahren gerade auch von konservativen Historikern stilisiert wurde, noch gab es - trotz mancher Spielräume in Einzelfragen - eine sinnvolle Alternative zu dem von Ebert verfolgten Kurs der parlamentarischen Demokratie, wie manch späte Anhänger des rätedemokratischen Modells seit den 1960er-Jahren zeitweise glaubten. Mühlhausen beschränkt sich daher unter Verweis auf die intensive Revolutionsforschung vergangener Jahre auf eine zusammenfassende Bilanzierung und Rechtfertigung der Politik Eberts als revolutionärer "Volksbeauftragter".
Die Schwerpunktverlagerung hin zum Reichspräsidenten Ebert, der in der bisherigen Geschichtsschreibung "auffallend blass" (17) geblieben ist, reagiert auf ein massives Defizit der Forschung und ist daher grundsätzlich zu begrüßen. Jedoch hätte dieser Teil der insgesamt flüssig geschriebenen Studie etwas straffer und analytisch "zupackender" gestaltet werden können. Trotz des voluminösen Umfangs strebt der Autor "keine (Teil-)Biographie im klassischen Sinne" an: "Nicht die Person Friedrich Ebert steht hier im Mittelpunkt, sondern der Amtsträger" (23). Als wichtigsten Grund für diese Einschränkung führt Mühlhausen das weitgehende Fehlen persönlicher Quellen an - ein Grundproblem jeder Ebert-Forschung und zweifellos eine der zentralen Erklärungen dafür, dass es seit dessen Tod über 80 Jahre gedauert hat, bis mit dem vorliegenden Werk endlich eine große biografische Arbeit erschienen ist. Möglicherweise hat Ebert selbst einen großen Teil seiner Papiere vernichtet, anderes fiel dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer. Mühlhausen, der schon seit Langem zu den besten Ebert-Kennern zählt, hat auf diesen empfindlichen Mangel mit einer bewundernswerten Sammelleidenschaft reagiert und ein extrem breites Quellenspektrum erschlossen. So wurden für die vorliegende Studie neben zahlreichen anderen Quellengruppen weit über 100 Nachlässe ausgewertet. Ein Mehr an Quellenarbeit im Rahmen einer historischen Monografie ist kaum vorstellbar. Dennoch fällt die Annäherung an die Person Eberts weiterhin schwer, und auch bei der Rekonstruktion politischer Vorgänge bleiben, dies wird vom Autor offen eingeräumt, immer wieder erhebliche Lücken.
Das zentrale Untersuchungsinteresse zielt auf eine Bestimmung der Position Eberts im Weimarer Verfassungsgefüge. Im Vordergrund steht dabei die angesichts zahlreicher Regierungskrisen nahezu omnipräsente Frage nach der Rolle des ersten Weimarer Reichspräsidenten bei der Regierungsbildung bzw. bei der Stützung von Regierungen. Die akribische Forschung Mühlhausens kann hier den Wissensstand en detail immer wieder mit neuen Erkenntnissen bereichern. Dies gilt insbesondere für den Übergang von der Regierung Wirth zum Kabinett Cuno im Jahr 1922, als Ebert einen besonders aktiven Part einnahm. Insgesamt war Eberts Politik dem Ideal eines starken Reichspräsidenten verpflichtet, der freilich in seinem Verständnis weniger ein verfassungsrechtliches Gegengewicht als vielmehr einen unterstützenden "Teil der Regierung" (993) darstellen sollte, was eine wichtige Erklärung für die häufige Bereitstellung des Notverordnungsartikels 48 durch das Staatsoberhaupt liefert. Ein durchgehendes Charakteristikum bildete Eberts Eintreten für eine breite bürgerlich-sozialdemokratische Konsenspolitik, die mit dem Modell der "Großen Koalition" von SPD, Zentrum, DDP und DVP verbunden war. Eberts Grundausrichtung war dabei nicht nur an der Herstellung möglichst breiter parlamentarischer Mehrheitsverhältnisse, sondern auch an dem Ideal einer zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum bestehenden "Volksgemeinschaft" orientiert. Weitere wichtige Felder der Untersuchung sind Eberts wehrpolitischer Kurs, seine außenpolitischen Grundorientierungen und Einflussnahmen, sein Umgang mit Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung sowie - mit instruktivem kulturgeschichtlichem Akzent - die Frage nach Eberts repräsentativer und integrativer Funktion als Reichspräsident und sein Kampf gegen polemische Verunglimpfungen.
Mühlhausens Gesamtbilanz über die Amtszeit Eberts fällt trotz minimaler Einschränkungen überaus positiv aus. Die bereits in der Einleitung aufgeworfene Frage, ob Ebert ein "Staatsmann" gewesen sei, wird schließlich mit einem deutlichen Ja beantwortet. Auch wenn dieses Urteil weiter geht als der Großteil der bisherigen Weimar-Forschung, die mit dem Prädikat des "Staatsmannes" eher Gustav Stresemann auszeichnete, bleiben die Grundmuster der von Mühlhausen vorgenommenen Bewertungen doch im Rahmen der bisherigen Geschichtsschreibung. Ebert wird ein wesentlicher Anteil an der Meisterung der existenziellen Weimarer Anfangskrisen, an der Vermeidung von Katastrophen und an der "Festigung der Demokratie" (1002) bescheinigt. Die dabei angewendeten Mittel, insbesondere der expandierende Einsatz von Artikel 48, werden letztlich für gerechtfertigt, ja unvermeidbar gehalten. Ebenso zustimmend bleibt - trotz gelegentlicher Hinweise auf Fehleinschätzungen des Reichspräsidenten - die Beurteilung der "nimmermüde[n]" (995) und meist erfolglosen Bemühungen um eine Große Koalition. Gleichzeitig wird die Haltung von Parteien und Reichstag kritisch ins Visier genommen. Ebert erscheint somit als "ein tragischer Staatsmann: Denn die demokratischen Parteien folgten ihm in seinem Streben nach einer Großen Koalition, nach Konsens und Miteinander zur Bewältigung der Krisenlagen nicht." (1001).
Abgesehen davon, dass hier und an anderen Stellen eine doch etwas pauschale Parteienkritik erfolgt, lässt sich die zweifellos vorhandene tragische Kluft zwischen Eberts innenpolitischen Zielen und den Weimarer Realitäten nach Auffassung des Rezensenten auch in umgekehrter Perspektive wahrnehmen. Waren es nicht vielleicht eher die weit gespannten Konsenserwartungen Eberts, die diese Kluft entstehen ließen und die dem System einer pluralistischen parlamentarischen Demokratie letztlich auch unangemessen waren? Trug nicht gerade das von Ebert und mit ihm von Teilen der bürgerlichen Mitte, aber auch von einzelnen Sozialdemokraten verfolgte und die realen Kompromissmöglichkeiten überfordernde Ziel einer Großen Koalition - bzw. nach deren kurzzeitiger Realisierung im Sommer und Herbst 1923 der Einsatz für deren Bewahrung - zu den viel beklagten parlamentarischen Lähmungserscheinungen bei?
Ein kleines Fragezeichen soll hinter die verwendete Kategorie des "Staatsmannes" gesetzt werden. Mühlhausen knüpft hierbei an eine Formulierung des führenden Weimarer Verfassungskommentators Gerhard Anschütz an, wonach "das 'Ideal des Staatsmannes der modernen Demokratie' nicht darin bestehe, Volk und Parlament zu folgen, sondern darin, beide zu führen" (991). Ob Ebert gemäß dieser Definition und angesichts der eben angesprochenen Divergenzen zwischen ihm und Teilen des Weimarer Parteiensystems wirklich mit vollem Recht als "Staatsmann" zu bezeichnen ist, sei hier dahingestellt. Fragwürdig und auch ein wenig antiquiert erscheint vor allem der Bezug auf eine Definition, die - Mühlhausen deutet dies einmal sogar selbst an (27) - in einem autoritären Staatsverständnis wurzelt und dem Prinzip der parlamentarisch vermittelten Volkssouveränität eigentlich widerspricht.
Kritisch hinterfragt sei zudem die milde Beurteilung des Umgangs mit Artikel 48. Die Tragweite der sukzessiven, von Mühlhausen detailliert nachgezeichneten Ausweitung im Einsatz dieses "Gummiparagraphen" (722), die im Einklang mit den regierenden Kabinetten und auch mit großen Teilen des Reichstags erfolgte, scheint mir doch unterbewertet. Dass Ebert den Artikel 48, der in der großen Krise der Inflationszeit neben Ermächtigungsgesetzen zum entscheidenden Mittel für eine entparlamentarisierte sozial- und wirtschaftspolitische Gesetzgebung wurde, nie gegen den Reichstag und damit nie gegen die Grundlogik des parlamentarischen Systems gebrauchte, ist nicht zu bestreiten. Es bestand daher ein diametraler Gegensatz zur späteren Anwendungspraxis unter Hindenburg. Allerdings handelte es sich bei diesem Instrument, so wie es am Ende der Amtszeit Eberts zur Verfügung stand, nicht um eine von Anfang an gegebene Verfassungsoption, sondern um ein in der Verfassungspraxis nach und nach entwickeltes Potenzial - das dann auch in systemüberwindender Absicht eingesetzt werden konnte.
Ein weiteres Beispiel für die allzu wohlwollende Bewertung der unter Ebert erfolgten Verfassungsentwicklungen bildet die Reichstagsauflösung vom 13. März 1924. Sicher war dies, kurz vor Auslaufen der Legislaturperiode, ein auf den ersten Blick relativ unspektakulärer Vorgang, hinter dem die Furcht vor einer Gefährdung der erreichten Währungsstabilisierung stand. Da sich die Auflösung gegen das von mehreren Reichstagsparteien artikulierte Verlangen nach Aufhebung bzw. Abänderung von Verordnungen richtete, die aufgrund des Ermächtigungsgesetzes vom 13. Oktober 1923 erlassen worden waren, wurde hier allerdings bereits ein problematischer Präzedenzfall für eine Kombination von Reichstagsauflösung und legislativem Notrecht geschaffen.
Trotz dieser kritischen Bemerkungen ist abschließend festzuhalten, dass Mühlhausen eine fundamentale Studie zum Wirken des Reichspräsidenten Friedrich Ebert vorgelegt hat, die für die Geschichtsschreibung zur Weimarer Republik fortan unentbehrlich sein wird. Es ist zu hoffen, dass die Diskussion um dieses Werk zur weiteren Neubelebung der Weimar-Forschung beiträgt.
Walter Mühlhausen: Friedrich Ebert 1871-1925. Reichspräsident der Weimarer Republik, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2006, 1064 S., 76 Abb., ISBN 978-3-8012-4164-3, EUR 48,00
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