Kann man der ökonomischen Entwicklung eines deutschen Staates mit rund 17 Mio. Einwohnern während der vergangenen fünfzig Jahre ernsthaft den Stellenwert einer Fußnote und damit eine randständige, ja untergeordnete Bedeutung für die jüngere deutsche Wirtschaftsgeschichte zuschreiben? Wohl kaum!
Dennoch diskutieren acht sehr renommierte Historiker eben diese Frage, wobei jeder von ihnen seine Stellungnahme auf die Analyse eines besonderen Aspekts der DDR-Wirtschaftsgeschichte gründet. Ihre recht unterschiedlichen Antworten auf die Frage nach dem Fußnotencharakter der DDR-Wirtschaftsgeschichte reichen von einem differenzierenden "Ja" (u. a. Gerold Ambrosius, Werner Plumpe) bis zum uneingeschränkten "Nein" (Manfred G. Schmidt) - und einige gehen überhaupt nicht darauf ein (u. a. Toni Pierenkämper). Dabei fällt auf, dass der semantische Gehalt dieser Leitmetapher "Fußnote" kaum reflektiert wird. Lediglich Raymond Stokes bietet eine etwas ausführlichere, an ihrer Funktion orientierte Interpretation. Die Überlegung, möglicherweise verweise das Diktum "Fußnote" im Sinne von Stefan Heym, von dem sie einst im Kontext der "Wende 1989/90" geprägt worden war, weniger auf einen inferioren historischen Stellenwert der DDR, als vielmehr auf ein Wahrnehmungsdefizit der Fachwissenschaft, wird nicht angestellt.
Wie dem auch sei, die einzelnen Beiträge selbst sind ohne Einschränkung mit Gewinn zu lesen. Gerold Ambrosius konzentriert seine Betrachtungen über die sozialistische Planwirtschaft als ordnungspolitische Alternative der Industriegesellschaft auf die Kernaspekte "Eigentum und Verfügung", "Planung und Lenkung" sowie "Anreiz und Kontrolle". Seine plausible Argumentation hebt darauf ab, dass sich bei aller ordnungspolitischen Dichotomie zwischen bundesdeutscher Marktwirtschaft und DDR-Planwirtschaft gemeinsame Wurzeln erkennen lassen. Hierzu zählt er den in West- und Ostdeutschland besonders ausgeprägten Verrechtlichungsprozess, der in dieser Form in anderen Staaten kaum anzutreffen gewesen sei. Auch die Systemlegitimation durch hohes Wirtschaftswachstum müsse nach Ambrosius in diesem Zusammenhang als deutsches Spezifikum interpretiert werden.
In seinen Ausführungen zum Stellenwert wirtschaftswissenschaftlicher Theorien innerhalb des jeweiligen ökonomischen Systems vertritt Hajo Riese die These, dass der Sozialismus vor allem in dem Bemühen gescheitert sei, Wissenschaft in Politik transformieren zu wollen. Dagegen zeichne sich der Kapitalismus bei aller theoretischen Fundierung durch ein stärkeres "trial-and-error"-Prinzip aus. Dadurch könne er flexibler auf neue Herausforderungen reagieren. Toni Pierenkämpers Untersuchung der ostdeutschen Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik hält als wesentliches Ergebnis fest, dass das DDR-Beschäftigungssystem etabliert worden war, um typische Probleme, die aus der marktwirtschaftlichen Steuerung resultierten, zu überwinden. Allerdings seien dadurch Effizienzverluste aufgetreten, zudem hätten vormoderne Formen der Arbeitsmarktvermittlung eine Wiederbelebung erfahren.
In einem bemerkenswert anregenden Beitrag über die industriellen Beziehungen arbeitet Werner Plumpe den klaren Bruch mit der deutschen Tradition des kollektiven Arbeitsrechts heraus. Vor allem hinsichtlich des institutionellen Arrangements sei eine Modellfunktion des sowjetischen Systems nicht zu leugnen. Allerdings gibt Plumpe zu bedenken, dass die gedankliche Konzeption, welche der Arbeitsorganisation in der DDR zugrunde lag, durchaus in einer Kontinuität zu deutschen Vorläufer aus dem 19. Jahrhundert zu begreifen sei. Die Skepsis gegenüber liberalisierten Arbeitsmarktmechanismen beispielsweise, also die Auffassung, der Staat müsse seine Bürger vor den Risiken der kapitalistischen Arbeitsorganisation bis zu einem gewissen Grad in Schutz nehmen, diente in wohl sämtlichen Regierungssystemen auf deutschen Boden als ein politischer Leitgedanke.
Christoph Buchheims Studie zum DDR-Außenhandel - bereits die im Titel angeführte "Achillesferse" benennt den zentralen Stellenwert dieses volkswirtschaftlichen Bereiches - macht deutlich, dass die ausgeprägte Tendenz zur Autarkie systemimmanenten Zwängen geschuldet war. Zugleich arbeitet Buchheim klar heraus, wie das SED-Regime einigermaßen friktionslos an die illiberale Außenhandelspraxis der Zwischenkriegszeit anknüpfte.
Mit der Technikentwicklung in der DDR befasst sich Raymond G. Stokes. In Anlehnung an Georg Bertschs populäre Galapagosanalogie hinsichtlich des ostdeutschen Produktdesigns zeigt er auf, wie veraltete Technologien, vergleichbar den urtümlichen Galapagosechsen, in relativer ostdeutscher Isoliertheit zu überdauern vermochten - bis zu dem Moment, als die Isolationsbarrieren wegbrachen ... Nur am Rande sei vermerkt, dass Stokes im Gegensatz zu Bertsch die Ambivalenz der Galapagosanalogie sehr wohl bewusst ist. Schließlich lässt sich an der Galapagosfauna ebenso gut das Phänomen rascher Innovation in unterschiedlichste Richtungen (z. B. adaptive Radiation bei Darwin-Finken) studieren. Manfred G. Schmidt charakterisiert in dem abschließenden Aufsatz die DDR als autoritären Wohlfahrtsstaat, der aufgrund systemimmanenter, nicht lösbarer Zielkonflikte in eine immer schwierigere Lage geraten sei. Den Reigen dieser Studien beschließt eine ausführliche Zeittafel wichtiger wirtschaftlicher, wirtschaftspolitischer und technologischer Ereignisse, die in dieser Ausführlichkeit ihresgleichen sucht.
Fazit: Ein Sammelband mit erfreulichen, gut zu lesenden und verständlichen Beiträgen, die teilweise in der Tat originelle Anregungen enthalten. Konzeptionell bleibt zu bemängeln, dass die im Buchtitel exponiert benannte Leitmetapher von der DDR-Wirtschaftsgeschichte als "Fußnote" unzureichend reflektiert wird und damit letztlich unglücklich gewählt ist.
André Steiner (Hg.): Überholen ohne einzuholen. Die DDR-Wirtschaft als Fußnote der deutschen Geschichte?, Berlin: Ch. Links Verlag 2006, 190 S., ISBN 978-3-86153-397-9, EUR 19,90
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