Obwohl für den oströmischen Kaiser Theodosius II. (408-450 nach Christus) und sein Reich vergleichsweise viele Quellen greifbar sind, wurde er in der Forschung bisher weitgehend vernachlässigt. In Anlehnung an die Ausführungen von Albert Güldenpenning (1885) und Otto Seeck (1920) ist das Bild eines dekadenten, gänzlich unselbständigen, von Eunuchen und Frauen fremdbestimmten Herrschers, der bisweilen frommes Hymnensingen den Regierungsgeschäften vorgezogen haben soll, immer noch allgegenwärtig. [1]
Nach langer Zeit hat sich nun Fergus Millar erstmals mit einer Monographie Theodosius II. angenommen. In insgesamt sechs größeren, aus Vorlesungen hervorgegangenen Kapiteln, fragt der Autor nicht nur nach dem Funktionieren von Administration und Regierung, sondern widmet sich ebenso soziokulturellen Aspekten jener Zeit. Auch wenn Millar die Regierung Theodosius' II. in den Fokus seiner Betrachtung rückt, so interessieren ihn - ebenso wie in seinem "Emperor in the Roman World" [2] - weniger die Person des Kaisers an sich als vielmehr die dem spätantiken Oströmischen Reich zugrundeliegenden Strukturen.
Bereits im ersten Kapitel ("Roman and Greek. State and Subjekt", 1-38) wird dem Leser die wohl wichtigste Grundannahme dieses Werkes dargelegt: "The Eastern Empire was [...] a separate regime" (13). Dieses - das "Greek Roman Empire", wie Millar es bezeichnet - habe sich nicht nur in kultureller Hinsicht, vor allem durch die griechische Sprache, sondern auch durch eine in sich geschlossene Administration vom Westen des Reiches unterschieden. Auf dieser Grundlage zeichnet der Althistoriker im Folgenden ein ebenso breites wie detailliertes Bild.
Nachdem im ersten Kapitel vor allem sprachliche und kulturelle Aspekte des Oströmischen Reiches betrachtet werden, stehen im zweiten Kapitel ("Security and Insecurity", 39-83) sowohl die militärische Situation an den Grenzen und die Kommunikation zwischen Konstantinopel und den Provinzen als auch das Verhältnis zum westlichen Teil des Reiches im Mittelpunkt der Betrachtung. Hierbei zeigt Millar insbesondere zweierlei: Zum ersten erscheinen Ost- und Westrom auch hinsichtlich ihrer militärischen Administration und Verwaltung als gänzlich eigenständige Gebilde. Obwohl, so der Autor, die Legislative des 5. Jahrhunderts weiterhin auf beide Teile des Reiches gleichermaßen bezogen war und in ihr demonstrativ die Einheit des Imperium propagiert wurde, habe die Praxis ein anderes Bild geboten: "In practice, there were still two Imperial courts, two separate administrative and tax-gathering structures, and two armies. " (41)
Neben der These von der Differenz der beiden Reichshälften eröffnet Millar des weiteren Einblicke in ein filigranes Interaktionsgeflecht zwischen dem administrativen Zentrum Konstantinopel und der Peripherie. Ausgehend von einer umfangreichen Quellenbasis kann der Autor zeigen, dass die administrativen Strukturen der Regierung und die des Militärs verblüffende Ähnlichkeiten aufwiesen. (83) Auf dieser Grundlage wird dem Leser im Folgenden anhand verschiedener Beispiele ein rascher Informationsaustausch zwischen den obersten Verwaltungsinstanzen in Konstantinopel und den entlegensten Orten an den Grenzen demonstriert, die dem Oströmischen Reich grundlegende Handlungsfähigkeiten verliehen.
Im dritten großen Kapitel (84-129) werden unter der breit gefassten Überschrift "Integration and Diversity" unterschiedliche Aspekte subsumiert: Einen Schwerpunkt bildet hierbei die Betrachtung der Sprache. Der Struktur des Reiches angepasst, die, so Millar, in erster Linie eine römische gewesen sei, seien amtliche Korrespondenzen in Latein geschrieben worden. Edikte und alle weiteren öffentlichen Bekanntmachungen hingegen seien in griechischer Sprache abgefasst worden. Ebenso sei auch die Sprache der Kirchen Griechisch gewesen (84f.; 98; 102). Beinahe als Randbemerkung erscheint sodann die zentrale Feststellung: "Latin was clearly essential for anyone, of many rank, performing a public function, even though all exchanges and communications with the public, whether groups or individuals, took place in Greek." (89)
Einen weiteren Faktor von Integration und Ausgrenzung sieht Millar im Bereich der Religion: Nur wer dem als "orthodox" geltenden christlich-nizänischen Glauben folgte, sei in das öffentliche Leben integriert gewesen. Heiden, Samaritaner und Juden hingegen hätten unter Theodosius II. mannigfache Einschränkungen und Repressionen erleiden müssen (128f.). Nachdem im dritten Abschnitt die Frage der Religion als integrierendes Moment thematisiert wurde, diskutiert der Autor in den beiden folgenden Kapiteln (Kapitel IV "State and Church: Civil Administration, Ecclesiastical Hierarchy, and Spiritual Power", 130-167; Kapitel V "State Power and Moral Defiance: Nestorius and Irenaeus", 168-191) das Verhältnis von Staat und Kirche. Unter Einbeziehung des reichhaltigen und in der althistorischen Forschung bisher viel zu wenig beachteten Quellenmaterials der Konzilsakten der beiden Synoden von Ephesos (431 und 449 n. Chr.) sowie des Codex Theodosianus gelingt es Millar, vielschichtige Interaktionsprozesse herauszuarbeiten: Der Leser trifft hier auf einen äußerst frommen Kaiser, der in schwierigen theologischen Diskussionen persönlich Stellung bezog, auf innerkirchliche Entscheidungsprozesse Einfluss zu nehmen versuchte und zudem unermüdlich mit dem Klerus korrespondierte. Andersherum zeigt sich aber ebenso, dass sich auch kirchliche Interessen in verschiedenen Gesetzeserlassen jener Zeit widerspiegeln. "State and Church", so Millar, "existed in a permanent condition of mutual dependence, concern, conflict - and commitment to the unattainable ideal of unity and harmony" (133).
Im letzten großen Kapitel (Kapitel VI "Persuasion, Influence, and Power", 192-234) widmet sich der Autor abschließend der Kommunikation mit dem kaiserlichen Hof und den Möglichkeiten der Einflussnahme auf jenen. Während dem oströmischen Senat bei Entscheidungsprozessen in erster Linie eine formelle Rolle zugekommen sei, habe indes die Möglichkeit bestanden, über ein komplexes Netzwerk persönlicher Beziehungen zu Personen am Hof beim Kaiser Gehör zu finden. Zudem sieht Millar auch den Kaiser selbst in ein Geflecht persönlicher Beziehungen integriert. Insbesondere seine ältere Schwester Pulcheria, seine Ehefrau Athenais Eudocia sowie der praepositus sacri cubiculi Crysaphius sollen Entscheidungen des Theodosius beeinflusst haben und seien dadurch wichtige Personen im kommunikativen Beziehungsgeflecht am Hofe gewesen (201).
Fergus Millar hat mit dieser Monographie eine flüssig geschriebene und sorgfältig gearbeitete Studie vorgelegt, die zwar vor allem vielfältige Einblicke in die Funktionsweise des spätantiken Oströmischen Reiches eröffnet, jedoch ebenso auch eine andere - neue -Wahrnehmung des vermeintlich von Frauen und Eunuchen beherrschten, nicht nur unselbständigen, sondern auch unfähigen oströmischen Kaisers bietet. Theodosius II. erscheint hier als besonnener, zumeist umsichtig handelnder Monarch, der es verstand, in einer von Krisen geschüttelten Zeit seine Herrschaft über nahezu ein halbes Jahrhundert zu sichern. Insbesondere auch auf Grund dieser neuen Sicht auf Theodosius II. ist diesem Buch eine breite Leserschaft zu wünschen.
Anmerkungen:
[1] Güldenpenning, A., Geschichte des oströmischen Reiches unter den Kaisern Arcadius und Theodosius II, Halle 1885, ND Amsterdam 1965; Seeck, O., Geschichte des Untergangs der antiken Welt, Bd. 6, Stuttgart 1920, ND 1966, 72.
[2] Millar, F., The Emperor in the Roman World (31 BC-AD 337), London 1977.
Fergus Millar: A Greek Roman Empire. Power and Belief under Theodosius II (408-450) (= Sather Classical Lectures; Vol. 64), Oakland: University of California Press 2006, xxvi + 279 S., ISBN 978-0-520-24703-1, GBP 32,50
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