Die deutsch-französischen Beziehungen, die immer wieder zu Kriegen geführt hatten, wurden ab 1950 zum Motor der europäischen Integration. Die deutsche Wiedervereinigung aber, so scheint es heute, hat die vormalige special relationship zu einer ganz gewöhnlichen, recht emotionslosen bilateralen Beziehung heruntergestuft. Mancher Beobachter wollte meinen, dass es noch schlimmer hätte kommen können: Hat nicht Präsident Mitterrand die deutsch-französische Freundschaft "verraten", als er die Wiedervereinigung nur mit wenig Begeisterung unterstützt hat? Zusammen mit Margaret Thatcher - und im Gegensatz zu George W.H. Bush und Mikhael Gorbachëv - rangiert er in der wissenschaftlichen und öffentlichen Meinung Deutschlands - man denke etwa an das Werk des Politologen Thilo Schabert [1] - gar als Gegner dieses Prozesses. Als Illustration hierfür wird insbesondere seine noch im Dezember 1989 unternommene Reise in die Hauptstadt der DDR angeführt.
Der französische Historiker Frédéric Bozo, ein Spezialist für die Geschichte de Gaulles und der NATO, befasst sich in seinem Buch mit der "Legende", Mitterrand habe die Wiedervereinigung vereiteln wollen. In einer dicht und solide dokumentierten Monografie nimmt sich der Autor also eines kontroversen Sujets an, wobei er eine nuancierte Interpretation der Diplomatie Mitterrands präsentiert. Sein Ziel besteht darin, die in Deutschland übliche Verurteilung der französischen Politik zur Zeit des Mauerfalls zu revidieren. Zum einen möchte Bozo zeigen, dass Frankreich keine marginale Rolle gespielt oder gar versucht hat, die Bremse zu ziehen. Zum anderen räumt er ein, dass es der Größe der Aufgabe nicht gewachsen war und verspätet und ohne Begeisterung am Prozess der Wiedervereinigung mitgewirkt hat.
Eingeführt von einem Prolog, der die wichtigsten Achsen der ersten siebenjährigen Präsidentschaftsperiode Fran çois Mitterrands exzellent erläutert, skizziert das Buch in sieben inhaltsreichen Kapiteln die Entwicklung der Politik Mitterrands in Reaktion auf die Reformbewegung Gorbachëvs, die Erosion der DDR, den Mauerfall, Kohls Zehn-Punkte-Plan, die Wiederbelebung der europäischen Integration, den 2+4 Prozess, die neue Rolle des Nordatlantik Paktes, das Gipfeltreffen von Maastricht und schließlich das Ende der UdSSR.
Bozo geht sine ira et studio vor, objektiv und in detaillierter Kenntnis von Archiven, die anderen Wissenschaftlern noch immer verschlossen sind. Dem Verfasser war ein Sonderzugang zu großen Quellengruppen in französischen Archiven zugestanden worden. Dank dieser Sondergenehmigungen - bezeichnend für die Irregularität, mit der rechtstaatliche Demokratien von Washington bis Berlin auch heute noch mit ihren staatlichen Archiven umgehen - konnte er die einschlägigen Akten des Elysée, des Außenministeriums sowie persönliche Bestände der wichtigsten Mitarbeiter des Elysée einsehen. Insgesamt stützt er sich auf eine beachtliche Masse an Dokumenten, was ihm ermöglicht, die Einstellungen der französischen Regierungsspitze sehr präzise zu erfassen. Allein schon auf Grund der Breite der analysierten Quellenbasis ist das Werk Bozos ein kardinaler Beitrag zur Geschichte dieser für Deutschland so wichtigen Geschehnisse sowie generell zur Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen. Es leistet einen fundamentalen Beitrag, um die doppelte Problematik zu verstehen, mit der die französische Diplomatie umzugehen hatte: die unaufhaltsame Bewegung hin auf die deutsche Wiedervereinigung und die dabei notwendige Erneuerung des europäischen Konstruktions- und Integrationsprozesses.
Obwohl Bozo versucht, die Politik Mitterrands innerhalb einer neuen Perspektive zu verstehen, spricht er sie keinesfalls von allen Vorwürfen frei und unterstreicht sogar ihre Schwächen und Widersprüche. Bozo zeigt, dass die Diplomatie Mitterrands von der Schnelligkeit der Entwicklung zwischen beiden deutschen Staaten überrumpelt wurde. Der Sozialist Mitterrand war dabei durchaus ein Kind der Nationalstaatsideen des 19. Jahrhunderts und des Gaullismus. Mitterand glaubte aber auch daran, dass sich die im Kalten Krieg erwachsenen Blöcke notwendigerweise auflösen mussten (was er übrigens auch im Hinblick auf die NATO annahm). Dennoch war die Schnelligkeit, mit der dies im Herbst 1989 auf östlicher Seite geschah, für die französischen Spitzenpolitiker überraschend, und sie schafften es nicht, sich zeitgerecht auf die neue Situation einzustellen und ihre Politik umzuformulieren.
Auf die zentrale Frage, ob die französische Diplomatie versucht hat, die Wiedervereinigung aufzuhalten oder gar ganz zu verhindern, gibt Bozo eine klare, wohl fundierte Antwort: Mitterrand hat die Annäherung zwischen den Deutschen und die Wiederherstellung eines deutschen Staates niemals behindern wollen. Der Verfasser räumt allerdings ein, dass der französische Präsident einen Wiedervereinigungsprozess bevorzugt hätte, der umrahmt worden wäre von europäischen Integrationsmaßnahmen und der langsamer vorangeschritten wäre. Es ist sicherlich der wichtigste Beitrag dieses Buches, klar zu zeigen, dass die französische Diplomatie in keiner Weise versucht hat, die Vereinigung der Deutschen, welche die meisten Franzosen als legitim und natürlich einschätzten, zu blockieren. Mitterrand war sogar der Überzeugung, dass sich jedes Blockademanöver als nutzlos, gefährlich und kontraproduktiv erweisen würde.
Allerdings provoziert die vorsichtige Einstellung Frankreichs einige Fragen. Signalisiert nicht schon die Abwesenheit einer emphatischen Unterstützungsgeste eine gewisse Reserviertheit, nachdem Paris jahrzehntelang behauptet hat, dass die Wiedervereinigung die normale Schicksalsbestimmung des deutschen Volkes sei? Steht dieses Schweigen nicht in flagrantem Widerspruch zum offiziellen Diskurs der deutsch-französischen Freundschaft? Ist dies nicht ein Hinweis darauf, dass der Annäherungsprozess zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland, 1950 begonnen, nicht so tief gegangen ist, wie man auf beiden Seiten immer behauptet hat? Und hätte die französische Diplomatie nicht mehr Einfluss gewonnen, wenn sie die Woge der neuen Entwicklungen frühzeitig erkannt, sich an ihre Spitze gestellt und sich rasch für die Wiedervereinigung ausgesprochen hätte? Hat die von Paris verfolgte Strategie der Vorsicht nicht dazu geführt, sich die Sympathie der Deutschen zu verscherzen und damit auf ein nützliches Mittel zu verzichten, ihre Politik zu beeinflussen? Bildet die deutsche Wiedervereinigung nicht einen Beleg für die permanente Wiederkehr der berüchtigten "französisch-deutschen Missverständnisse", die bis in die frühe Nachkriegszeit zurückzuverfolgen sind?
Das Buch Frédéric Bozos ist besonders dann überaus interessant, wenn es die tiefe mentale Verankerung von veralteten Denkstrukturen und die Lebendigkeit internationaler Mythen (wie der Mythen von Jalta, München und Rapallo) illustriert. Im Angesicht der deutschen Wiedervereinigung hat sich Mitterrand als Mann der Vergangenheit, von der Gegenwart überfordert, gezeigt. Hubert Védrine bestätigte, dass Mitterrand "die Zukunft im Lichte der Vergangenheit" sah (23). 1989 fürchtete er, einer "Rückkehr ins Jahr 1913" beizuwohnen (23). Mitterrand sah wohl die Möglichkeiten, welche die Umwälzungen im Osten eröffneten, aber er war in noch höherem Maße besorgt über die möglichen Gefahren. Sein Bestehen auf endgültige Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze durch Bonn lässt sich in diesem Zusammenhang erklären. Das wichtigste Ziel des französischen Präsidenten war es, den Wiedervereinigungsprozess in einen europäischen Rahmen einzubinden und gleichzeitig die europäische Konstruktion zu beschleunigen. Wie vor ihm Robert Schuman, aber auch de Gaulle gab Mitterrand eine europäische Antwort auf die deutsche Frage. Auch wenn die Wirtschafts- und Finanzunion schon seit 1988 die Priorität seiner Europapolitik bildete, war es der Mauerfall, der ihn veranlasste, Helmut Kohl für diese Union seine volle Zusage abzuringen und sie zur Bedingung der deutschen Wiedervereinigung zu machen.
Bozo unterstreicht auch das generelle Ziel der französischen Diplomatie, Gorbachëv nicht zu destabilisieren und eine chaotische Implosion oder gar eine gewalttätige militaristisch-reaktionär-kommunistische Explosion der UdSSR zu verhindern, die für Europa und die Welt die gefährlichsten Konsequenzen hätte haben können. Frankreich zeigte sich dabei bemüht, die Veränderungen der internationalen Ordnung behutsam zu begleiten - ein Anliegen, das Deutsche und Amerikaner allerdings wohl teilten.
Zusammenfassend kann man feststellen, dass der Autor eine ausgewogene Bilanz der Politik Mitterrands präsentiert. Als Präsident gelang es ihm nur sehr bedingt, die Weltordnung der Zeit nach dem Kalten Kriege zu schmieden, obwohl er gerade dies mit seinem Projekt einer europäischen Konföderation erhofft hatte. In einem frischen und angenehmen Stil geschrieben, leistet das Buch Frédéric Bozos einen essenziellen Beitrag zum Verständnis der französischen Außenpolitik, ihrer Mechanismen, ihrer Ziele und ihrer Konzepte. Es ist sehr zu hoffen, dass dieses Werk ins Deutsche übersetzt wird, da es wertvolle Einsichten über die Politik des noch immer wichtigen Nachbarn des wiedervereinten Deutschland gibt und einige der zahlreichen "deutsch-französischen Missverständnisse" ausräumt.
Anmerkung:
[1] Thilo Schabert: Wie Weltgeschichte gemacht wird. Frankreich und die deutsche Einheit, Stuttgart 2002
Frédéric Bozo: Mitterrand, la fin de la guerre froide et l'unification allemande. De Yalta à Maastricht, Paris: Odile Jacob 2005, 518 S., ISBN 978-2-7381-1642-0, EUR 29,00
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