sehepunkte 7 (2007), Nr. 9

Stefan Schweizer: "Unserer Weltanschauung sichtbaren Ausdruck geben"

Der Münchner Festzugspomp, ein NS-Ritualspektakel mit Massenperformance, ein (auf über 300 Seiten zu untersuchendes) Sujet der Geschichts- und Kunst-Wissenschaft? Oft wurde das mit dem Schlagwort der Kitschproduktion verneint. Aber auch soweit sich empirische Einzelstudien, ikonographische Untersuchungen, einschlägige Essays oder Kommentierungen von Filmszenen mit den Münchner Festzügen bisher auseinandersetzten, blieb deren Schlüsselfunktion für Produktion, Konstruktion und Repräsentation nationalsozialistischer Geschichtsvorstellungen weitgehend außer acht. Jetzt liegt eine Studie vor, die den Veränderungen der Festzüge von 1937-39 gegenüber dem von 1933 nachgeht. Zentrales Ergebnis: Was den Nationalsozialisten lange Zeit nicht gelang, das brachten sie 1937 mit dem Zug "2000 Jahre deutsche Kultur" fertig: Nie zuvor hatten sie so staatshoheitlich repräsentativ, konzentriert und zusammenhängend ihr Geschichtsmodell in der Öffentlichkeit vorgetragen.

Während der Zug 1933 zur Grundsteinlegung des "Hauses der deutschen Kunst" wesentlich noch auf bürgerlich-akademische Kunst- und Geschichtsauffassungen des 19. Jahrhunderts zurückgriff - Schweizer nennt ihn den "heraldischen Zug" - bestimmte man für 1937 neue Verantwortliche und ein geändertes inhaltliches Konzept. In den Epochenkategorien der Kunst wurde nun strukturell-chronologisch die mythologisierte deutsche Geschichte dargestellt. "Man hat diesen Zug einen geschichtlichen Anschauungsunterricht ohnegleichen genannt", schwärmte der NS-Journalist H. A. Thies. Wie jene mittelalterlichen Wunderuhren zu geschlagener Stunde "aus verborgenem Schrein die Kaiser, Könige und Fürsten der Vorzeit in feierlichem Umzug hervorschicken, so ist es hier: Zu dieser Stunde öffnet sich der Schrein unserer Geschichte". Die Festzüge ab 1937 bauten nach Thies den Geschichtsunterricht weiter aus: "der dröhnende Marschschritt der Geschichte findet hier seine Verkündung. Im Jahre 1937 zog im Zuge noch nicht die Ostmark mit; im Jahre 1938 noch nicht der Wappenwagen der böhmischen und mährischen Städte, noch nicht die Prager Burg mit den geöffneten Torflügeln und dem gereckten Schwert, noch nicht der Hl. Georg vom Hradschin." (Münchner Mosaik, Juli 1939)

Wie die Schwierigkeiten der Verlegung neuer Geschichtsbücher für die höheren Schulen zeigen, gelang es den Nazis in ästhetisierter Form wesentlich komplikationsloser eine Geschichtsauffassung darzulegen, die als eine Art Minimalkonsens zum Ausgleich der polyvalenten und deutlich divergierenden Geschichtsbilder der jeweiligen NS-Größen imstande war. Schweizer verweist auf eine Studie von Agnes Blänsdorf: Erst zwischen 1939 und 1941 konnten die nach den Vorgaben des Regimes angefertigten Geschichtslehrbücher jahrgangsweise eingeführt werden - und auch sie waren "nach amtlicher Feststellung nicht mehr als eine Übergangslösung". Die Kunst illustrierte also nicht nur die NS-Geschichtsinterpretation, sie lieferte nicht nur eine "schöne" und gefällige Darstellung, sondern sie stellte ästhetische und kunstwissenschaftliche Kategorien zur Verfügung, um sie überhaupt formulierbar und propagandistisch wirksam zu machen, um zu rechtfertigen, was mit einer selbst minimalen sachlichen Argumentation nicht zu rechtfertigen war. In einem Exkurs zeichnet Schweizer die kunsthistoriografische Rezeptionsgeschichte des "Bamberger Reiters" und der "Naumburger Uta" nach und zeigt die Verantwortung der Kunsthistoriker für die völlige Enthistorisierung und dadurch nach allen Seiten ausdeutbaren Figuren. So möbelte man den Ewigkeitsnimbus der Kunst wieder auf, mit der eine ewige deutsche Nation heroisch verklärt und sakralisiert werden konnte. So steuerte man auf die Diffamierung und Aussonderung der Avantgarde-Künstler zu, auf die rassistische Verfolgung "alles Gemeinen und Hässlichen", seien es Künstler oder andere Völker.

Die Studie geht ursprünglich auf ein Projekt des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen zurück, das kunstgeschichtliche und geschichtswissenschaftliche Fragestellungen zu historiografischen und künstlerischen Epochenimaginationen zusammenführte. Das transdisziplinäre Verständnis, in dem der Autor seinem kunstgeschichtlichen Erkenntnisinteresse folgt, ermöglichte eine detailreiche Untersuchung. Etwa 200 Seiten sind der Vergleichsanalyse der Festzüge gewidmet. Hier öffnen sich Perspektiven der Zuschauer und Darsteller, der Organisatoren und Auftraggeber, der Künstler und Medien, der Stadtverwaltung und Nazihierarchie, der Besucher und Bewohner Münchens. Ein Dauerkonflikt, ein Grunddilemma der NS-Kunst- und Kulturpolitik wird sichtbar: Die sich selbst als revolutionär und radikal apostrophierende Bewegung für einen "neuen nationalen Aufbruch" musste sich immer wieder traditioneller Kanones bedienen. Wie die Nazis mit diesem Grundkonflikt umgingen, wie sie aus der verfahrenen Situation versuchten herauszukommen - wie sie etwa ein rassisches Verwandtschaftsverhältnis zu den Griechen konstruierten, das wiederum ästhetisch begründet wurde -, und wie sie ebenso die Vorteile des Anknüpfens an Traditionen nützten: der Autor entlockt den Festzügen reichlich Stoff. Ein Extrakapitel vertieft die Kernaussagen anhand von drei exemplarisch gewählten personenbezogenen Theoremen: der völkischen Kunstgeschichte mit Paul Schultze-Naumburg, der kunstgeschichtlichen Vermittlungspraxis von Hans Kiener (Dozent an der Kunstgewerbeschule) und der Fabrizierung eines "Wesens deutscher Kunst" durch Wilhelm Pinder, der 1939 zu Führers Geburtstag beschwor: "Kunstgeschichte heißt heute Geschichte".

Dem Forschungsstand zu historischen Festzügen als Medium historischer Imagination, zur Münchener Festzugstradition und zur Ritualpraxis der NS-Feierästhetik widmet Schweizer einleitend 50 Seiten. Schade, dass hier jenes berühmte Suchen von Walter Benjamin nach Begriffen, "mit denen die Nazis absolut nichts anfangen können", nicht so recht erkennbar ist: Ästhetisierte, versinnlichte Politik wird allzu gleichbedeutend mit politischer Ästhetik verwendet. Schade auch, dass Norbert Elias' historiografisch und sozialpsychologisch einschlägige "Studien über die Deutschen" nicht einmal in der Literaturliste erscheinen. Auch das Kapitel über die fotografische Festzug-Berichterstattung entspricht nicht ganz dem sonstigen Format der Arbeit. Denn 1937 erfolgte auf Beschluss des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda die offizielle organisatorische Eingliederung der Amateurfotografie in den NS-Apparat, und nicht zufällig hieß es: "Beim Tag der Deutschen Kunst soll zum ersten Male in München der Versuch gemacht werden, die Amateurphotographen voll einzusetzen, aber nicht auf den Gebieten, die dem Berufsphotographen zustehen, sondern jenen der Gelegenheits- und Stimmungsbildnerei." (MZ, 12.7.37) Die bildrhetorischen Quellen der Festzugs-Berichterstattung könnten also noch objektiver analysiert werden - dank Schweizers Studie nun in einem kunsttheoretisch adäquaten Bezugsrahmen!

Fazit: Eine empirische Studie, die mit neuem Material alte Erkenntnisse wieder interessant macht, und mit altem Material neue Erkenntnisse und neue Fragestellungen befördert. Kann man mehr verlangen?

Rezension über:

Stefan Schweizer: "Unserer Weltanschauung sichtbaren Ausdruck geben". Nationalsozialistische Geschichtsbilder in historischen Festzügen zum 'Tag der Deutschen Kunst', Göttingen: Wallstein 2007, 332 S., ISBN 978-3-8353-0107-8, EUR 29,00

Rezension von:
Brigitte Zuber
München
Empfohlene Zitierweise:
Brigitte Zuber: Rezension von: Stefan Schweizer: "Unserer Weltanschauung sichtbaren Ausdruck geben". Nationalsozialistische Geschichtsbilder in historischen Festzügen zum 'Tag der Deutschen Kunst', Göttingen: Wallstein 2007, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 9 [15.09.2007], URL: https://www.sehepunkte.de/2007/09/13108.html


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