Die Debatte über die Komplizenschaft deutscher Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaftler mit dem nationalsozialistischen System und seiner rassistischen Eroberungs-, Vertreibungs- und Vernichtungspolitik, die seit dem Deutschen Historikertag 1998 in Frankfurt a. M. in einer breiteren Öffentlichkeit, zeitweise durchaus heftig geführt wurde, scheint abgeklungen zu sein. Die bis dahin - trotz früher, in Deutschland jedoch praktisch nicht wahrgenommener Arbeiten wie Max Weinreichs "Hitler's Professors" (1946) - landläufige Vorstellung, dass nur abseitige Pseudowissenschaftler das NS-Regime unterstützt, "wahre" Wissenschaftler sich aber im Gegensatz dazu stets in Distanz zu Ideologie, Politik und Verbrechen gehalten hätten, wurde mittlerweile nachhaltig in Frage gestellt und korrigiert.
Dass Wissenschaft nicht nur "missbraucht" wurde, wie es lange Jahre hieß, sondern Wissenschaftler sich freiwillig und begierig in den Dienst der Politik stellten und diese nicht nur legitimierten, sondern auch mitformten, kann heute kaum mehr ernsthaft geleugnet werden. Insofern kommt der Arbeit der Historiker, die sich diesem absichtsvoll ausgeblendeten Kapitel der Geschichte nicht zuletzt auch ihrer eigenen Disziplin annahmen, eine ähnlich bahnbrechende Bedeutung zu wie der ersten so genannten Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung im Jahr 1995, die das beschönigende Bild von der "sauberen Wehrmacht" durcheinander brachte: Ein Zurück hinter bestimmte Einsichten sollte heute nicht mehr ohne Weiteres möglich sein. Im Rückblick dürften auch etwaige Übertreibungen und Verzerrungen verständlich werden, ohne die ein lange bestehender Konsens kaum ins Wanken gebracht werden kann.
Freilich ist das Thema damit keineswegs außer Streit gestellt. Noch immer gibt es große Differenzen bei der Bewertung verschiedener Personen und ihrer Involvierung. Nicht zuletzt die Frage nach Kontinuitäten über den Bruch des Jahres 1945 hinaus ist dazu angetan, Emotionen zu erzeugen, macht sie doch deutlich, dass die Nachkriegswissenschaft in Deutschland keineswegs unberührt und völlig entkoppelt ist von den Entwicklungen im "Dritten Reich". Von vornherein hatte die Diskussion ja einen doppelten Fokus: auf die NS-Zeit ebenso wie auf die Nachkriegszeit. Es ging nicht nur um die Beteiligung von Wissenschaftlern an nationalsozialistischer Politik und ihren Verbrechen, sondern auch um methodische und personelle Kontinuitäten in die Bundesrepublik hinein.
Ingo Haar und Michael Fahlbusch, zwei Proponenten der Debatte, die mit wichtigen Aufsätzen und Monografien zum Thema hervorgetreten sind, haben nun einen englischsprachigen Sammelband vorgelegt, der an verschiedenen Beispielen die Beteiligung von Humanwissenschaftlern an der rassistischen Bevölkerungspolitik, die schließlich in den systematischen Massenmord mündete, illustriert und die deutsche Diskussion damit einem weiteren internationalen Publikum zugänglich macht. Dem deutschen Leser werden einige der Beiträge zumindest teilweise bekannt sein, weil sie entweder auf zuvor veröffentlichte Aufsätze zurückgehen oder größere oder bereits publizierte Arbeiten zusammenfassen.
Georg Iggers, der mit seinen früheren Arbeiten über die Geschichte und Methodik der Geschichtswissenschaft wichtige Grundlagen für die Debatten des vergangenen Jahrzehnts gelegt, den Forschungen einer jüngeren Generation geradezu den Weg geebnet hat, ruft in seinem Vorwort noch einmal die Diskussionen um Volksgeschichte und Ostforschung sowie das lange Schweigen der Zunft über ihre Verstrickung in Erinnerung. Ingo Haar widmet sich in seinem anschließenden Beitrag dem Aufstieg der deutschen Ostforschung nach dem Ersten Weltkrieg und ihrem Verhältnis zum Antisemitismus, Michael Fahlbusch rückt die "Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften" und ihre Verbindungen zur SS und zum Reichssicherheitshauptamt in den Blick.
Ist damit schon eine direkte institutionelle Verknüpfung von Volkstumsforschung und Volkstumspolitik angesprochen, so können Eric Schmaltz und Samuel Sinner die Einbindung völkischer Forschung in die Vernichtungspolitik beschreiben: an Hand von Georg Leibbrandt, dem hohen Beamten des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete und Teilnehmer der Wannsee-Konferenz, und Karl Stumpp, der in der Ukraine Informationen über Volksdeutsche sammelte und dabei indirekt die "Endlösung" dokumentierte. Nach dem Krieg boten seine Daten eine Grundlage für die Familienforschung der russlanddeutschen Landsmannschaft.
Weitere Beiträge widmen sich Erich Keyser und seinem Konzept einer Bevölkerungsgeschichte Deutschlands (Alexander Pinwinkler), der deutschen Annexionspolitik in Slowenien und Norditalien (Michael Wedekind) sowie der Volkstumsforschung in der Slowakei (Christof Morrisey). Wolfgang Freund und Hans Derks beleuchten in ihren Aufsätzen am Beispiel zweier ihrer Exponenten die (im Vergleich zur Ostforschung) weniger bekannte Westforschung, Eric Kurlander am Beispiel des Kieler Historikers Otto Scheel mit dem Nordseeraum verbundene völkische Vorstellungen. Frank-Rutger Hausmann fasst noch einmal seine Forschungen zu den "Deutschen Wissenschaftlichen Instituten" im besetzten Europa zusammen.
Vor allem die Untersuchungen von Viorel Achim über Sabin Manuila, den rumänischen Demographen und Statistiker, von Karl Heinz Roth zu drei Phasen in der Biografie Hans Rothfels' und von Jan Piskorski zu Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen deutscher Ost- und polnischer Westforschung lassen die Spannbreite des Themas aufscheinen: es erschöpft sich weder im zeitlich begrenzten Blick auf das "Dritte Reich" noch im national verengten Blick auf Deutschland. Erst die Einbettung in die weitere Geschichte des 20. Jahrhunderts wie auch der transnationale Vergleich lässt Entwicklungen und Konturen deutlich werden und ermöglicht differenzierte Ergebnisse. Damit ist implizit auch eine Agenda für weitere Forschungen beschrieben.
Der Band bietet in dreizehn, quellengesättigten Texten einen guten Überblick über das gesamte Forschungsfeld und einen Einblick in einzelne Beispiele mit neueren Forschungsergebnissen. Die Tatsache, dass es eine vergleichbare Zusammenstellung auf dem heimischen Buchmarkt noch nicht gibt, macht ihn auch für den deutschen Leser interessant - und lässt zudem noch einmal deutlich werden, wie umstritten das Thema doch weiterhin ist und wie schwierig es für Wissenschaftler bleibt, sich der Vergangenheit ihrer eigenen Disziplin und der Verstrickungen ihrer Vorväter zu stellen.
Ingo Haar / Michael Fahlbusch (eds.): German Scholars and Ethnic Cleansing, 1920-1945. With a Foreword by Georg G. Iggers, New York / Oxford: Berghahn Books 2004, XXI + 298 S., ISBN 978-1-57181-435-7, GBP 36,50
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