Mittelalterrezeption ist eines der schon fast klassisch gewordenen interdisziplinären Paradigmen, die in der Forschung der vergangenen drei Jahrzehnte eine spürbare Konjunktur erlebt haben - in Deutschland angefangen mit der Stauferausstellung in Stuttgart 1977, in Frankreich mit der langjährigen Beschäftigung etwa mit Jeanne d'Arc, im angelsächsischen Ausland mit dem Medievalism. Damit ist gleichzeitig gesagt, dass auf diesem Forschungsfeld bereits vieles gesagt und getan ist. Grundstürzend Neues wird man kaum ausfindig machen können. Allein die Sujets, an denen man Fragen der Mittelalterrezeption nachgeht, werden in den letzten Jahren auffallend abseitig; vielleicht auch das ein Hinweis darauf, dass zu den zentralen Themen der Rezeption kaum noch wirklich Neues beizutragen ist. Die alleinige Ausnahme davon ist die nun auch schon seit mehr als einem Jahrzehnt betriebene Erforschung des Themenbereiches "Mittelalter im Film", dessen weitere Analyse immer noch Erkenntniszugewinne verspricht. (Nur am Rande sei auf eine Stilblüte in einer Veranstaltungsankündigung des Mittelalterzentrums einer deutschen Eliteuniversität hingewiesen, die eine Lehrveranstaltung zum Thema "Der mittelalterliche Film" verspricht.)
Vor dem Hintergrund dieser Forschung stellt die kunsthistorische Dissertation von Camilla G. Kaul ein ebenso ehrgeiziges wie umfangreiches Unterfangen dar, will sie doch nichts weniger, als zu einem ausgesprochen reich behandelten Thema der Mittelalterrezeption eine umfassende Gesamtdarstellung bieten, noch dazu bereichert um einen Katalogband, der Darstellungen Barbarossas und des Kyffhäuser im 19. Jahrhundert in den Medien der Malerei, der Bildhauerei, der Denkmäler, der Graphik sowie der Feste und lebenden Bilder dokumentieren soll. Dass ein solches Vorhaben Wünsche offenlassen wird, auch dort, wo die Kompetenz der hier im Vordergrund stehenden Kunstgeschichte eben nicht hinreichend ist, um die parallele Rezeption in der Geschichtswissenschaft und in der populären Geschichtsdarstellung gültig zu erfassen, dürfte außer Frage stehen.
Die Gliederung der Dissertation ist so übersichtlich wie schlüssig. Nach einer kurzen Einleitung (13-26) mit - allerdings grenzwertig knappen - Bemerkungen zu einem wesentlich umfassender zu dokumentierenden Forschungsstand (21-26) folgen in aller Kürze die Grundlagen der Arbeit (27-65) in Gestalt eines kurzen Abrisses zu Friedrich Barbarossa und seinem Wirken und zur Entwicklung der Kaisersage sowie zu Problemen der Geschichtsauffassung, der Mittelalterrezeption und der Historienmalerei im 19. Jahrhundert. Nimmt man alles das als einen konzentrierten Überblick über den Sachstand, dann wird man gut eingeführt. Eigentlich Innovatives in Fragestellung und Methode wird nicht deutlich, was freilich kein Problem sein muss.
In der eigentlichen Durchführung entschließt sich die Verfasserin zu einer chronologischen Reihung. In immer gleich strukturierten Kapiteln wird das Thema Barbarossa im Kyffhäuser für die Zeit der Freiheitskriege und der Restauration (66-133), des Vormärz und der Revolutionsjahre 1848/1849 (134-279), der Jahre bis zur Reichseinigung (280-440) sowie des Deutschen Reiches von 1871 bis - etwas unvermittelt und auch unbegründet endend - etwa 1900 (441-752) behandelt. Als Historiker wird man anmerken dürfen, dass das 19. Jahrhundert eben nicht 1900 endete, sondern eher 1914 oder 1918/19. Den späten Wilhelminismus und die Jahre des Weltkriegs ausgeklammert zu haben, ist ein deutlicher Mangel der Arbeit. Die Arbeit schließt mit dem nicht überraschenden Fazit, dass "Friedrich Barbarossa im Kyffhäuser - ein wandelbarer Mythos" sei (753-767). Ein sehr nützliches chronologisches Verzeichnis der literarischen Rezeption während der Jahre von 1790-1914 (769-801) findet sich ebenso im Anhang wie die üblichen, handwerklich sauber gearbeiteten und verlässlichen Verzeichnisse.
Folgt man Kaul, so war die erste Phase der Barbarossa-Kyffhäuser-Rezeption von einer inhaltlichen Unbestimmtheit gekennzeichnet, die es erlaubte, in den späteren Jahrzehnten nach 1830 diesen Herrscher und den Kyffhäuser für sehr unterschiedliche politische Programme in Anspruch zu nehmen. Das bleibt auch in Vormärz und Revolutionsjahren im Wesentlichen unverändert, freilich wird die Parallelisierung des vergangenen Mittelalters zur innenpolitischen Stagnation des Vormärz deutlicher: Der schlafende Kaiser kann auch als Bild der Gegenwart des 19. Jahrhunderts gesehen werden und taucht - so verstanden - nun auch in politischen Karikaturen auf.
Den Höhepunkt der Barbarossa-Rezeption markieren zunächst die Jahre unmittelbar vor der Reichsgründung 1871. Zunehmend wird Barbarossa auch zum Gegenstand heute zu Recht vergessener literarischer Bearbeitungen, die dennoch - oder deswegen? - sehr viel über die Befindlichkeiten ihrer Entstehungszeit aussagen und die heranzuziehen sinnvoll ist, wenngleich hier eine der wesentlichen Schwächen der Arbeit zu suchen ist, nämlich der Verzicht darauf, sich auf das Überschreiten der eigenen Disziplingrenzen einzulassen und den Versuch einer Parallelisierung der verschiedenen Rezeptionsstränge und -methoden zu unternehmen.
Quantitativ wie qualitativ bildet das umfängliche Kapitel über die Barbarossa-Rezeption im Deutschen Reich seit 1871 den Mittelpunkt der Arbeit. Die Parallelisierung von Barbarossa und Barbablanca (Kaiser Wilhelm I.) macht deutlich, dass aus der Projektion nationaler Erwartungen auf eine mittelalterliche Herrscherfigur nun der legitimierende Rückbezug des Erreichten auf das Mittelalter geworden war. Dies wird sauber herausgearbeitet, auch und nicht zuletzt anhand der Interpretation des Kyffhäuser-Denkmals einschließlich seiner Entwürfe und Parallelen sowie anhand der Analyse von kaiserzeitlichen Festprogrammen, vom Kölner Karneval 1872 bis zum Kaisergeburtstag 1897. Es ist dieses Kapitel, durch das die Kenntnisse der Barbarossa- und Kyffhäuser-Rezeption systematisch erweitert und sicherlich für längere Zeiten gültig zusammengeführt werden.
Im Zusammenhang mit der Reichsgründungszeit formuliert Kaul: "Alle Darstellungen des Kyffhäuser-Kaisers eint aber eine gemeinsame Aussage: Stets steht Barbarossa als Bild für die nationalen Sehnsüchte der Deutschen. Um welche es sich explizit handelt, erschließt der jeweilige Kontext." (440) Diese beiläufige Bemerkung ist gleichzeitig auch eine Zusammenfassung des Ertrages der Arbeit. Die Rezeption setzt, so könnte man hinzufügen, unterschiedliche Schwerpunkte, verfolgt unterschiedliche Ziele und ist so bunt, wie das für die historischen Entwicklungen im 19. Jahrhundert im Allgemeinen gilt. Darauf aufmerksam gemacht zu haben und es in den Grenzen des Möglichen umfassend dokumentiert zu haben, ist das Verdienst einer Arbeit, deren mehr als tausend Druckseiten freilich einmal mehr die Frage aufkommen lassen, ob Dissertationen dieses Umfangs und Dissertationsthemen dieser Breite eigentlich noch verantwortbar sind.
Camilla G. Kaul: Friedrich Barbarossa im Kyffhäuser. Bilder eines nationalen Mythos im 19. Jahrhundert (= ATLAS. Bonner Beiträge zur Kunstgeschichte; Bd. 4), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2007, 2 Bde., 914 S. + 116 S., ISBN 978-3-412-16906-0, EUR 129,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.