Der Sammelband Die Türkei und Europa, herausgegeben von Gabriele Clemens und Ralph Tuchtenhagen, dokumentiert eine Ringvorlesung im Wintersemester 2004 / 2005 an der Universität Hamburg. In ihrer Einleitung geht Clemens auf die verschiedenen Etappen der Verhandlungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union ein. So hebt sie hervor, dass, während beim Abschluss des Assoziierungsabkommens von 1963 die Zugehörigkeit der Türkei zu Europa nicht in Frage stand, diese heute jedoch Gegenstand heftiger, häufig emotional aufgeladener Debatten ist, obwohl die Türkei Ende 1999 den Status eines Beitrittskandidaten erhielt. Gegenüber dieser Tatsache ist das Ziel dieser Veröffentlichung, so Clemens, an das Thema wissenschaftlich heranzugehen und "zu einer Versachlichung der Türkei-Debatte beizutragen". Dafür wurden in diesem Band dreizehn Artikel abgedruckt, die von Spezialisten verschiedener Disziplinen verfasst wurden.
Als Erstes behandeln drei Historiker die Beziehungen zwischen Europa und der Türkei. So hebt der Althistoriker Jürgen Deininger hervor, dass ein wichtiger Teil der Anfänge der "europäischen" Kultur sich in Westanatolien vollzog und dass die Türkei so gesehen einen "Wurzelbereich" der europäischen Kultur darstellt. Anschließend geht Jürgen Sarnowsky auf die Konfrontation der europäischen Reiche mit der Expansion der Osmanen im Spätmittelalter ein, die erste Pläne und Gedanken zu einer Einigung Europas zur Folge haben. Schließlich diskutiert Wolfgang Burgdorf die Hauptargumente der Gegner eines Beitritts der Türkei in die Europäische Union, indem er überzeugend auf der langen gemeinsamen Geschichte, die Europa und die Türkei verbindet, beharrt. In diesem Sinne trifft, wie Burgdorf unterstreicht, das kulturalistische Argument Hans-Ulrich Wehlers nicht zu.
Drei weitere Aufsätze legen den Schwerpunkt auf die geschichtliche Entwicklung bestimmter Bereiche im osmanischen Reich beziehungsweise in der Türkei: Der Artikel von Dietrich Jung behandelt die Frage der Staatlichkeit im osmanischen Reich und zeigt, dass der osmanische Staat im 19. Jahrhundert von dem europäischen Staatenbildungsprozess geprägt wurde und dass die Strukturen der türkischen Republik als ein Ergebnis europäischer Politik bezeichnet werden können, was ihn zu dem Schluss führt, dass die Geschichte der osmanischen Staatsbildung sich als Teil der europäischen erweist. Der Religionswissenschaftler Olaf Schumann geht auf die Frage des Verhältnisses von Religion und Staat in der Türkei ein, indem er auf den Säkularisierungsprozess am Ende des osmanischen Reiches und am Anfang der türkischen Republik zurückkommt. Mit Recht erinnert er daran, dass der Laizismus in der Türkei nicht in einer Trennung von Staat und Religion besteht, sondern in einer strengen Kontrolle der Religion durch den Staat. Weniger überzeugend ist der Unterschied, den der Autor zwischen Laizismus und Säkularisierung vorschlägt. [1] Abgesehen davon wird hier ein kompliziertes Thema angerührt, das angesichts der letzten Ereignisse in der Türkei eine unbestreitbare Aktualität besitzt und das eine grundlegendere Analyse der Machtausübung der kemalistischen Elite auf die Religion benötigt. Schließlich thematisiert die Kunsthistorikerin Burcu Dogramaci den Umbau Ankaras in den 1920er und 1930er Jahren und den Willen der Kemalisten, aus der neuen Hauptstadt ein Symbol für die radikale Modernisierung der Türkei zu machen. Dieser Aufsatz wirft unzählige Fragen auf, deren Beantwortung der Analyse türkischer Quellen bedarf. Hier könnte beispielsweise nach den eigenen Vorstellungen der Kemalisten gegenüber Europa gefragt werden, dessen technischen Fortschritt sie bewunderten, dem sie aber politisch stark misstrauten, was sich unter anderem in ihrer Ambivalenz gegenüber den europäischen Experten ausdrückte. [2]
Die zweite Serie von Artikeln betrifft das Verhältnis zwischen der Türkei und der EU. Zuerst analysiert Harun Gümrükçü die seit Jahren laufende Veränderung der Grundlagen des Assoziationsabkommens zwischen der Türkei und der EWG / EU, das, obwohl es mehr als eine Entwicklungsassoziierung und eine Freihandelsassoziierung ist, heute dazu tendiert, von der Beitrittsperspektive abzurücken. Anschließend behandelt Sena Ceylanoglu die Wandlungen des Verhältnisses der EU zur Türkei, indem sie auf die Auffassungen der Politiker über den Beitritt der Türkei zur EG in den 1960er Jahren zurückkommt, als die Religion kein Thema war und die Überlegungen rein strategisch waren. Mit Recht weist sie auf die heutige emotionale Dimension der Frage des Beitritts der Türkei zur EU und auf den Mangel an Kenntnissen über die Türkei seitens der Gegner hin. Der folgende Artikel von Martin Sökefeld thematisiert die Situation der alevitischen Einwanderer, die sich für einen Beitritt der Türkei zur EU aussprechen, um unter anderem die Anerkennung des Alevitentums zu erreichen. In diesem Sinne erscheint der Beitrittsprozess als eine Möglichkeit, gesellschaftliche und politische Änderungen zu initiieren. Die gegenwärtige Diskussion über den Beitritt der Türkei zur EU ist Gegenstand des Aufsatzes von Abdullah Kulac und Jürgen Nielsen-Sikora. Völlig richtig zeigen die beiden Autoren, dass Europa sich in einer Identitätskrise befindet und dass die Türkei in dieser Krise die Rolle eines Katalysators spielt. Türkischerseits zeigen sie die Bemühungen der Türkei, einen Dialog mit Europa zu führen, am Beispiel der Zeitung Zaman. Zwar erweist sich bis jetzt die Zeitung Zaman, die regelmäßig Artikel von Intellektuellen veröffentlicht und tatsächlich für die Demokratisierung der Türkei wirkt, gemäßigt in Bezug auf die Europafrage. Jedoch muss meines Erachtens hinzugefügt werden, dass die Position dieser, der Partei AKP und dem Prediger Fethullah Gülen nahestehenden religiös-konservativen Zeitung zum Beispiel in Bezug auf den Laizismus heute noch offen und deswegen fragwürdig bleibt. Der Aufsatz von Hakan Yilmaz thematisiert den Euroskeptizismus in der Türkei, der sowohl politisch als auch identitätsbezogen ist. Wenn auch die EU-Mitgliedschaft weiterhin erwünscht wird, ist nicht auszuschließen, so Yilmaz, dass der Skeptizismus zunimmt. Der vorletzte Artikel von Sarah Maas und P. Michael Schmitz untersucht die wirtschaftlichen Aussichten eines EU-Beitritts der Türkei und vertritt die These, dass er für beide vorteilhaft wäre. Schließlich beschäftigt sich der Aufsatz von Hendrik Fenz mit den Perspektiven einer Einbeziehung der Türkei in die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), deren Ziele allerdings noch nicht festgelegt sind.
Diese verschiedenen Aufsätze zeigen, wie kompliziert und vielfältig sich die Verhältnisse zwischen der Türkei und Europa gestalten. Viele unterstreichen mit Recht die Notwendigkeit, erst einmal in Betracht zu ziehen, dass beide Seiten sich seit Jahrhunderten sowohl in der Konfrontation als auch im gegenseitigen Austausch konstruierten, in einem ambivalenten Wechselspiel, das in dem Roman von Orhan Pamuk Die weiße Festung thematisiert wird. Und genau dieser Aspekt muss von den Geisteswissenschaftlern weiterhin vertieft werden.
Anmerkungen:
[1] Siehe beispielsweise die gegenteilige Stellungnahme des Politologen Samih Vaner in: Laïcité et laïcisme. Quelques réflexions sur l'islam politique dans le contexte pluraliste, in: Ders. (Hg.): La Turquie, Paris 2005, 311-329, hier 315.
[2] Siehe Dorothée Guillemarre-Acet: L'Allemagne, l'Empire ottoman et la Turquie républicaine. Relations politiques et liens culturels (1908-1933), Paris univ. Diss. INALCO 2006.
Gabriele Clemens (Hg.): Die Türkei und Europa (= Studien zur Neueren Europäischen Geschichte; Bd. 1), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2007, 279 S., ISBN 978-3-8258-0782-5, EUR 24,90
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