Wie schreibt man die Geschichte des Ersten Weltkrieges als 'totalen' Krieges, als Krieges demnach, der das Leben jedes Mannes, jeder Frau und jedes Kindes in den beteiligten Staaten beeinflusste? The Great War and Urban Life in Germany ist Roger Chickerings Antwort auf diese Frage. "Total war requires total history" (2), konstatiert er in der Einleitung - der totale Krieg erfordere eine umfassende Art der Darstellung, welche die Beziehungen zwischen Front und Heimat möglichst ebenso einbeziehe wie politische, soziale, kulturelle und ökonomische Aspekte des Krieges. Machbar sei dies nur durch Beschränkung auf einen kleinen Raum, eine Mikro- bzw. Lokalgeschichte. Die gewisse Paradoxie, 'total history' als 'microhistory' zu schreiben, sei in Kauf zu nehmen. Chickerings langjährige Beschäftigung mit dem Konzept des totalen Krieges prägt dabei nicht nur den Zuschnitt der Darstellung, also das Streben, alle Lebensbereiche in die Darstellung einzubeziehen, sondern zugleich auch den erzählerischen Fokus, der darauf gerichtet ist, den weitreichenden Einfluss des Krieges auf die Einwohner Freiburgs herauszuarbeiten. Die Wahl Freiburgs als Untersuchungsgegenstand begründet der Autor mit Verweis auf die gute Quellenlage, die für die Untersuchung lokaler Gesellschaft praktische mittlere Größe der Stadt und einem subjektiven Interesse an "war in a lovely place" (3). Repräsentativität nimmt er für seine Auswahl nicht in Anspruch.
Es ist kein Buch der großen Thesen, kein Versuch, am Beispiel einer Stadt die Interpretationsmuster der bisherigen Weltkriegsforschung in Zweifel zu ziehen oder grundlegend neue Fragen aufzuwerfen. Der Charme und Erkenntnisgewinn des Buches liegen vielmehr in der mikrogeschichtlichen Darstellung, die in groben Linien Bekanntes in der lokalen Perspektive erörtert und dabei um neue und im Detail überraschende Facetten ergänzt. Städtische Akteure, Ereignisse und Konfliktmuster werden stets vor dem Hintergrund einer extensiven Kenntnis (und gleichzeitig eher sparsamen Zitation) der Forschungsliteratur zum Weltkrieg interpretiert. Das Buch gliedert sich in 14 Kapitel; ein Fazit, auch dies ein Hinweis auf die sich der provokativen Thesenbildung enthaltende Methode Chickerings, gibt es nicht.
Die Anfangskapitel führen den Leser in die Gesellschaft Freiburgs bei Kriegsausbruch ein, thematisieren Augusterlebnis und erste Kriegswochen sowie Freiburgs ganz konkrete Kriegserfahrungen, die Luftangriffe, denen es als frontnahe Stadt mehrfach ausgesetzt war. Die Front war in Freiburg stets präsent; die Bürger gewöhnten sich an den Lärm der Artillerie, sie konnten von den umliegenden Hügeln sogar das Schlachtfeuer 'besichtigen'. Es folgen einige überwiegend sozialgeschichtlich argumentierende Kapitel zur städtischen Wirtschaft im Krieg, zu den Lebens- und Ernährungsverhältnissen, dem Umgang der Kommunalverwaltung mit den Herausforderungen der Kriegswirtschaft, der Inflation, der Rationierung. Schon in diesen Kapiteln, in denen die materiellen Auswirkungen des Krieges im Vordergrund stehen, verbindet Chickering die sozialgeschichtliche Perspektive konsequent mit dem Blick auf die Deutungsebene der Akteure. Ihn interessiert, so begründet er diese Mischung, sowohl die "pretextual materiality" des Krieges, zu der er sich vehement bekennt, als auch "the effort to make sense of the war's vast material consequences" (9), die Interpretation des Krieges als Text.
Im Laufe des Buches verschiebt sich der Schwerpunkt dabei etwas stärker auf die kulturgeschichtliche Ebene, mit Kapiteln zum Umgang mit dem Tod, den nationalen Vereinen in der Stadt und ihrer patriotischen Propaganda, der Wahrnehmung der Klassendifferenzen, der kriegsbedingten Umdeutung und Reorganisation der städtischen Kultur, der Interpretation von Differenzen zwischen den Geschlechtern, Konfessionen, Alterskohorten sowie der abschließenden Darstellung der zunehmenden Fragmentierung der Kriegsgesellschaft. Auch in diesen Kapiteln bleibt die Frage nach Deutungsmustern jedoch eng rückgebunden an die Darstellung der materiellen Verhältnisse und lokalen Strukturen.
Beispielhaft für diese Art der Narration ist etwa das Kapitel "The War on the Senses", in dem die kriegsbedingte Veränderung der Essgewohnheiten, die Folgen von heißen Kriegssommern und kalten Kriegswintern für Kleidungs- und Wohnverhältnisse, die Auswirkungen des nur wenige Kilometer entfernt tobenden Krieges auf die Strukturierung des öffentlichen Raumes, die Zeit- und Lärmwahrnehmung sowie die Farben des Krieges diskutiert werden. Das Teilkapitel "Nourishing and pleasant tasting" skizziert auf der Basis von Lokalzeitungsberichten, Archivalien und Kriegskochbüchern den Umgang der Bevölkerung mit der Nahrungsmittelknappheit, wobei die Erfindung spezieller Formen des "Kriegsmus" und sein (widerlicher) Geschmack ebenso ins Licht gerückt werden wie (vergebliche) Bemühungen bürgerlicher Frauenvereine, Arbeiterfrauen zu besserer Haushaltsführung anzuleiten oder die zunehmende Bürokratisierung und Regulierung des Restaurantbetriebs. Auch wenn Chickering sich nur begrenzt auf Ego-Dokumente stützt, wird der - jeweils klassenspezifisch geprägte - Kriegsalltag hier auf eine Weise erzählt, dass man die Produkte der Kriegsküchen zu riechen vermeint; Analoges gilt für seine Überlegungen zu den Farben des Krieges. Die Darstellung nimmt in diesen Abschnitten geradezu filmische Qualitäten an, ohne, was dies implizieren könnte, die analytische Distanz zu verlieren, vielmehr den kommentierenden Blick des Regisseurs implizierend.
Das Teilkapitel zur Restrukturierung des öffentlichen Raumes widmet sich dem zunehmend eingeschränkten Funktionieren des Straßenbahnnetzes, der Konfiskation von Fahrrädern, den Unterbrechungen des Kommunikationsnetzes. Solche Einschnitte hatten mehr als praktische Auswirkungen, so Chickering - so wichtig er auch jene, etwa für die tägliche Haushaltsführung in Arbeiterfamilien, nimmt. "The war's rearrangement of spaces bred an oppressive sense of Freiburg's isolation and confinement, an acute sensitivity to the contrasts between 'inside' and 'outside'" (293). Die das ganze Buch durchziehende Erkenntnis, wie stark die Erfahrung und Deutung des Krieges klassenspezifisch geprägt war, wird besonders deutlich in der Analyse der Gefallenenanzeigen. Während bürgerliche Gefallenenanzeigen die Sinnstiftung des Todes meist mit den Topoi "Gott", "Vaterland", "Heldentod" und "Feld der Ehre" füllten, waren diese Deutungmuster für die Arbeiterschicht nicht attraktiv: In mehr als zwei Dritteln der Anzeigen in der sozialistischen "Volkswacht" fehlte ein Bezug auf das Vaterland; Gott wurde nur in Ausnahmefällen angerufen (329). Das Politische gerät trotz des Schwerpunktes auf Alltag und auf Wahrnehmungs- und Deutungsstrategien niemals zu kurz, dafür stehen Kapitel wie jenes zur Klassengesellschaft im Krieg - "Class" -, das sowohl die Selbstinszenierung der Bürger als ideale Patrioten als auch die schrittweise Abkehr der Freiburger Sozialdemokraten von anfänglicher Kriegsbefürwortung und der Vision einer klassenübergreifenden nationalen Gemeinschaft analysiert.
Trotz seiner Länge lädt das Buch dazu ein, ganz gelesen zu werden, zum einen aufgrund der engen Verflechtung der Aspekte und Kapitel, zum anderen weil nur so jene Totale entsteht, die Chickering darzustellen wünschte. Gleichzeitig stehen viele Kapitel, sei es "The War on the Senses" oder "The National Community in Town", durchaus für sich und bieten sich auch als Seminartexte an, liefern sie doch jeweils eine schön zu lesende, mikrogeschichtlich zugespitzte und damit konkret-plastische Darstellung einzelner Kriegsaspekte auf methodisch und inhaltlich-argumentativ höchstem Niveau. Eine deutsche Übersetzung ist noch für 2008 im Schöningh Verlag angekündigt.
Roger Chickering: The Great War and Urban Life in Germany. Freiburg, 1914-1918 (= Studies in the Social and Cultural History of Modern Warfare; Vol. 24), Cambridge: Cambridge University Press 2007, xiv + 628 S., ISBN 978-0-521-85256-2, GBP 55,00
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