Hugo Preuß war lange Zeit nur als Autor des ersten Weimarer Verfassungsentwurfes bekannt. Entsprechend wurden ihm auch alle echten und vermeintlichen Übel der Weimarer Verfassung zur Last gelegt. Da "Bonn" nicht "Weimar" sein wollte und in der Verfassungspolitik andere Wege ging, geriet Preuß in Vergessenheit. Erst die erneute Beschäftigung mit dem Linksliberalismus vor 1914 und eine veränderte Sicht auf die Gründe für das Scheitern Weimars beförderten das Interesse an linksliberalen Meisterdenkern wie Max Weber, Theodor Barth, Friedrich Naumann, Ernst Troeltsch, Hugo Preuß und anderen. [1] Die Bürgertumsforschung analysierte den Liberalismus sozial- und kulturgeschichtlich. Eine Fülle von Studien aus dem Bielefelder und dem Frankfurter Bürgertumsprojekt differenzierten den Liberalismus sozial und regional. [2] Der Doppelcharakter des Bürgertums als soziale und als kulturelle Vergemeinschaftung ließ die politische Kategorie Liberalismus leicht diffus werden. Liberalismus wurde so eher zur Problem- oder zur Suchanzeige, denn zum politischen Programm des Bürgertums.
Quelleneditionen akzentuieren seit einiger Zeit wieder die Politik des liberalen Bürgertums. Der Berliner Historiker Christian Jansen edierte die Korrespondenz der 1848er revolutionären Linken zwischen der Revolution und dem preußischen Verfassungskonflikt und gab so dem Linksliberalismus in der Reaktionszeit eine Stimme. [3] Max Webers Weltkriegsschriften hatten schon vor Längerem den Blick auf die politische Debatte im Liberalismus gelenkt. [4] Die jetzt mit dem ersten Band begonnene Edition der Schriften von Hugo Preuß gewinnt vor diesem Hintergrund ihre Bedeutung. Sie bietet erneut Innenansichten der politischen Einstellungen im linken Liberalismus. Die von einem Kreis aus Juristen, Politikwissenschaftlern und Historikern getragene Edition hat sich vorgenommen, in fünf Bänden alle Schriften von Preuß bis auf drei Monografien, die in unveränderten Nachdrucken andernorts vorliegen, kritisch zu edieren. [5] Im ersten Band bringen der Historiker Lothar Albertin und der Rechtswissenschaftler Christoph Müller den Politiker Hugo Preuß zwischen 1885 und 1918 in 53 Texten zur Sprache, was allerdings nur einen Teil seiner Veröffentlichungen vor 1918 darstellt. 85 weitere Schriften aus dem Kaiserreich gehen in die anderen vier Bände ein. [6] Dieser Band enthält die Stellungnahmen von Preuß in und zur Bismarck-Ära, zur Junkerfrage, zum Wilhelminismus und zur Politik Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Abgedruckt und kommentiert ist außerdem die Monografie "Das deutsche Volk und die Politik" von 1915. Der Band beginnt mit einer instruktiven Einleitung von Lothar Albertin, die die nachfolgenden Texte historisch und systematisch einordnet. Die Schriften selbst sind in ihren Themenfeldern chronologisch angeordnet und werden umfangreich erläutert (721-769). Die Herausgeber legen abschließend ihre vorbildlichen editorischen Grundsätze dar (771-776) und fördern die Benutzbarkeit der 821 Seiten durch umfangreiche Namens- und Sachverzeichnisse. Fürwahr: eine Riesenarbeit mit musterhafter Präzision.
Editionen lösen immer die Frage nach ihrem Ertrag aus. Inwiefern verändert diese Edition unser Wissen um Hugo Preuß, den Liberalismus und das Kaiserreich? Wo setzt sie neue Themen? Welchen Erkenntnisgewinn bringt eine solche Riesenarbeit? Hier fällt die Antwort differenziert aus. Preuß stand mit seiner Kritik an der Politik Bismarcks (69-94), am politischen Einfluss der Junkerkaste (201-274), der Politik des Reiches im Weltkrieg, der Vaterlandspartei und dem Ultranationalismus der politischen Rechten nicht allein. Er ist hier durchaus repräsentativ für die linksliberale Kritik an der Reichsgründungspolitik, an der inneren Machtverteilung, an der fehlenden Parlamentarisierung. Auffällig ist freilich seine fehlende explizite Kritik am Regierungsstil Wilhelms II., die stattdessen systemisch gewendet wird. Auch seine Reformkonzeptionen (656-693) und die Überlegungen zur politischen Führerauswahl berühren sich mit Webers Kritik am schwachen Auftreten des Bürgertums in den Parlamenten. Demgegenüber akzentuierte Preuß stärker die Führerauswahl im Parlamentarismus der kommunalen Selbstverwaltung (100, 116, 138, 337, 364). Ein "entschiedener Liberalismus" (358-361) sollte hier Abhilfe schaffen. Auch seine Englandnähe und die Verteidigung des englischen Premiers William Gladstone teilte Preuß mit Rudolf von Gneist und anderen Bewunderern des self-government auf der Insel. Die Liste der Gemeinsamkeiten reicht bis in den Weltkrieg und den Kampf gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht. In diesen Teilen vertieft dieser Band unser Wissen um den Linksliberalismus, er erweitert das Bild der Person Hugo Preuß um einige Facetten, worunter die Fundierung des Parlamentarismus in der Selbstverwaltung besonders ins Gewicht fällt.
Anders ist es dagegen bei der Frage nach den historischen Ursachen für den Niedergang des Liberalismus. Bisher überwog die durch die nationalliberale Tradition deutscher Geschichtswissenschaft tradierte Vorstellung, die Revolution von 1848 habe die Weichen für die Zukunft gestellt. Hugo Preuß geht in seiner Ursachensuche für den obrigkeitlichen Überhang seiner politischen Umwelt bis in die preußische Reformzeit und hier immer wieder bis zur Steinschen Städteordnung von 1808 zurück (215ff., 219ff., 418ff. und öfter). Die Städteordnung hatte "mit der richtigen Ordnung der Kommunitätssachen einen Zusammenhang zwischen der Nation und der Staatsverwaltung herstellen" wollen. [7] Aber ihr folgte keine Kreis- und Gemeindeordnung, keine Provinzialordnung und keine alles verbindende Staatsverfassung, was zusammengenommen das zwiespältige Verhältnis des deutschen Bürgers zu seinem Staat begründete. Verzögert, unter Qualen und unvollständig waren diese erst in den 1870er Jahren nachgeholt worden. [8] Die historischen Weichenstellungen der Reformzeit reichten für Preuß daher bis in seine Gegenwart. Sobald sich die autoritäre Tradition mit dem Antisemitismus verband und die Rechtsgleichheit von Juden verhinderte, waren die Grundfesten der konstitutionellen Ordnung gefährdet. Da sich die SPD gerade hier vehement einsetzte, bescheinigte ihr Preuß, die historische Rolle des Liberalismus übernommen zu haben (292, 325). Überhaupt war die staatsbürgerliche Gleichheit für ihn der Prüfstein für die Annäherung von Linksliberalismus und SPD. Zustimmend zitierte er William Gladstone, der einem englischen Sozialisten antwortete, als dieser soziale, nicht politische Reformen forderte. "Mein lieber Herr, ich kenne keine sozialere Reform als die Wahlreform." (325) Diese makellose Edition vertieft unser Wissen über die Person Hugo Preuß und den Liberalismus. Innovativ wirkt sie auf die Forschung dort zurück, wo sie den historischen Rahmen der liberalen Krisenanalyse neu bestimmt.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Karl Heinrich Pohl: Liberalismus und Bürgertum 1880-1918, in: Lothar Gall (Hg.): Bürgertum und bürgerlich-liberale Bewegung in Mitteleuropa seit dem 18. Jahrhundert, München 1997, 231-291.
[2] Vgl. Thomas Mergel: Die Bürgertumsforschung nach 15 Jahren, in: AfS 41 (2001), 515-538.
[3] Vgl. Christian Jansen (Bearb.): Nach der Revolution 1848/49. Verfolgung, Realpolitik, Nationsbildung. Politische Briefe deutscher Liberaler und Demokraten 1849-1861, Düsseldorf 2004.
[4] Vgl. Max Weber: Gesamtausgabe, hg. von Horst Baier, Abt. 1, Bd. 15: Zur Politik im Weltkrieg, hg. von Wolfgang Mommsen und Gangolf Hübinger, Tübingen 1984.
[5] Diese drei nicht edierten Schriften sind: "Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften" (1889, unveränderter reprografischer ND der Ausgabe Berlin Springer, 1889, Dillenburg Gruber, 1999; Nachdrucke zum öffentlichen Recht Bd. 27), "Das städtische Amtsrecht in Preußen" (1902, unveränderter reprografischer ND, Bleyen-Genschmar Gruber 2006) und "Die Entwicklung des deutschen Städtewesens" (1906, ND der Ausgabe Leipzig 1906: Aalen 1965).
[6] Der zweite Band "Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie im Kaiserreich" wird von Dian Schefold herausgegeben, der dritte dokumentiert "Verfassungsentwürfe, Verfassungskommentare, Verfassungstheorie" (Hg. Marcus Llanque und Christoph Schönberger), der vierte Band ediert die Schriften zu "Politik und Verfassung in der Weimarer Republik" (Hg. Detlef Lehnert) und der fünfte, wiederum von Christoph Müller herausgegebene Band "Kommunalwissenschaft und Kommunalpolitik".
[7] Altensteins Denkschrift vom 12. 9. 1807, in: Georg Winter (Hg.): Die Reorganisation des preußischen Staates unter Stein und Hardenberg, Bd. 1, Berlin 1931, 404ff.
[8] Zu den Verwaltungsreformen in den 1870er Jahren vgl. Siegfried Weichlein: Nation und Region. Integrationsprozesse im Bismarckreich, Düsseldorf 22006, 245-281.
Hugo Preuß: Politik und Gesellschaft im Kaiserreich. Hrsg. u. eingeleitet v. Lothar Albertin in Zusammenarbeit mit Christoph Müller (= Hugo Preuß. Gesammelte Schriften; Bd. 1), Tübingen: Mohr Siebeck 2007, X + 811 S., ISBN 978-3-16-149016-3, EUR 89,00
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