sehepunkte 8 (2008), Nr. 9

Klaus Beyer: Pragmatische Didaktik

Vorbei sind die Zeiten der erbitterten Grabenkämpfe zwischen den Vertretern der verschiedenen Richtungen in der Allgemeinen Didaktik; vorbei ist auch die Phase der wechselseitigen Annäherung ihrer Positionen; es ist es stiller geworden um die einstige Paradedisziplin der Erziehungswissenschaft. In wenigen immer wieder neu aufgelegten Lehrbüchern wird ihr kaum noch strittiger Theoriebestand konserviert und für immer neue Generationen von Lehramtsstudenten verfügbar gehalten, um von ihnen im Rahmen ihrer Ausbildung, vor allem aber in den erziehungswissenschaftlichen Teilen ihrer Abschlussprüfung traktiert zu werden.

In einer solchen Situation "scheinbarer Saturiertheit" eine neue Allgemeine Didaktik vorzulegen, bedeutet ein gewisses Wagnis, das sich überdies dem Verdacht aussetzt, letztlich eben doch nur vielfach Breitgetretenes zu wiederholen. Der Autor des hier anzuzeigenden Bandes, der seit vielen Jahren an der Universität zu Köln Erziehungswissenschaft lehrt, ist dieses Wagnis eingegangen. Bisher vornehmlich mit Arbeiten zur Didaktik des in der gymnasialen Oberstufe unterrichteten Faches Pädagogik hervorgetreten, zieht er in seinem neuen Werk die allgemeindidaktische "Summe" aus seiner jahrzehntelangen und intensiven Beschäftigung mit den Fragen fachbezogenen Lehrens und Lernens. Das Buch, das sich mit seinem Untertitel "Studien" bescheiden gibt, verfolgt nichtsdestoweniger einen systematischen Anspruch. Dabei hat der Titel "Pragmatische Didaktik" programmatischen Charakter und dies in dreifacher Hinsicht.

Mit der Kennzeichnung seiner Didaktik als einer "pragmatischen" will der Autor unter einer wissenschaftstheoretischen Perspektive die traditionellen Frontstellungen in der Allgemeinen Didaktik unterlaufen und den Anspruch auf ein unterschiedliche Ansätze integrierendes allgemeindidaktisches Konzept unterstreichen. Dieser Integrationsanspruch bezieht sich dabei nicht allein auf die traditionellen Theoriekonzepte der Allgemeinen Didaktik, sondern auch auf die für den Unterricht relevanten Felder der Pädagogischen Psychologie sowie auf die Ergebnisse der modernen empirischen Unterrichtsforschung.

Aus einer bildungstheoretischen Perspektive will der Autor mit seiner "Pragmatischen Didaktik" eine moderne Unterrichtslehre entwerfen, die seinem zentralen Anliegen Rechnung trägt: Nämlich Unterricht im allgemeinbildenden Schulwesen so zu gestalten und zu organisieren, dass er der Entwicklung und Förderung der Kompetenz zum vernünftigen Handeln bei den Schülern dient. Über die Explikation und Begründung ihrer normativen Fundamente hinaus erörtert diese Unterrichtslehre die leitenden Prinzipien für die Themenauswahl und Strukturierung, an denen sich ein diesem Grundanliegen verpflichteter Unterricht auszurichten hat.

Unter einer handlungsorientierenden Perspektive signalisiert die Kennzeichnung "pragmatisch" schließlich die Absicht des Autors, den Lehrern "vor Ort" Hilfestellung zu bieten für die Verbesserung ihrer Unterrichtspraxis. Sie sind die eigentlichen Adressaten des Buches und sie erhalten ein höchst differenziertes Instrumentarium zur kritischen Reflexion ihrer eigenen subjektiven Unterrichtstheorien und der auf ihnen basierenden Unterrichtspraxis.

Im Folgenden soll geprüft werden, ob und inwieweit die skizzierten Ansprüche eingelöst werden.

Bei aller Offenheit gegenüber unterschiedlichen didaktischen Richtungen bleibt der Autor seiner Grundausrichtung nach einem bildungstheoretischen Ansatz verpflichtet, wie er seit Jahrzehnten, mit mancherlei Modernisierungen zwar, in seinem Grundanliegen jedoch unbeirrt, von W. Klafki vertreten wird. So ist es sicher kein Zufall, dass Beyers Buch in seiner "Architektur" an Klafkis "Perspektivenschema zur Unterrichtsplanung" aus der Phase der kritisch-konstruktiven Didaktik der 1980er Jahre erinnert. [1] Im Dienste einer bildungstheoretischen Fundierung stehen die ersten beiden Studien: Zunächst einmal wird in sorgfältig argumentierenden Schritten die normative Grundlage für jeden schulischen Unterricht entfaltet. Das den allgemeinbildenden Unterricht leitende Bildungsziel wird als "Kompetenz zum vernünftigen Handeln" begründet und entfaltet. Und selbstverständlich steht auch dieses alle weiteren Überlegungen zum Unterricht fundierende Bildungsziel in der von Klafki immer wieder reklamierten bildungstheoretischen Tradition der Aufklärung und des Neuhumanismus.

Keiner der im Fortgang von Begründung und Explikation auftretenden Teilaspekte bleibt unerörtert. Das bedeutet, dass der Leser in allen neun Studien immer wieder stark systematisch ausgerichtete "Mini-Abhandlungen" über einzelne Aspekte des jeweils erörterten Themenschwerpunktes findet. Man könnte einwenden, dass hierin eine gewisse Tendenz zur Übersystematisierung ihren Niederschlag findet, die die Lektüre nicht gerade erleichtert. Auf der anderen Seite macht gerade sie das Buch zu einer Fundgrube für die Erörterung vielfältiger Detailfragen und Probleme, die in anderen Didaktikkonzepten unerörtert bleiben.

Die in der ersten Studie entfaltete Bildungsidee wird in der zweiten Studie mit der Realität konfrontiert, die den Bildungsauftrag des Unterrichts gefährdet. Dabei liegt der Fokus der Analyse zum einen auf den Gefährdungen, die das Anliegen des Unterrichts "von außen" bedrohen, etwa die einseitige Ausrichtung des Unterrichts auf operationalisierte Fachleistungsstandards; zum anderen geht es aber auch um das Gefährdungspotenzial, das dem intendierten Bildungsprozess aus der Struktur von Schule und Unterricht selbst erwächst und in dessen Gefolge eine weitgehende Entfremdung der Schüler gegenüber dem schulischen Lernen droht.

Auf die bildungstheoretische Grundlegung folgen zwei Studien, in denen das alle unterrichtlichen Bemühungen leitende Ziel quasi operationalisiert wird: Die Fähigkeit und Bereitschaft zum vernünftigen Handeln setzt die Ausbildung eines reflektierten und kategorial strukturierten Selbst- und Weltverständnisses (Studie III) sowie einer möglichst hoch entwickelten Handlungskompetenz im Sinne einer in allen möglichen Handlungskontexten verfügbaren Schlüsselkompetenz voraus (Studie IV). Bestandteil dieser Erörterungen sind wiederum auch sorgfältige Analysen grundlegender Begriffe, wie dem des "Handelns" oder dem gegenwärtig geradezu inflationär gebrauchten Begriff der Kompetenz.

Ein dritter Abschnitt, der insgesamt drei Studien umfasst, thematisiert die zentralen Prinzipien, an denen sich ein der Idee vernünftigen Handelns verpflichteter Unterricht zu orientieren hat: Das Prinzip der Herstellung von Handlungsbezügen (Studie V), das Prinzip des Wissenschaftsbezugs (Studie VI) und das Prinzip des wertbezogenen Unterrichts, bei dem es um die notwendige Förderung der Werturteilskompetenz geht (Studie VII). In diese Abschnitte wiederum sind etwa eingearbeitet eine gründliche Analyse dessen, was sich in manchen didaktischen Konzeptionen gelegentlich eher naiv mit den Erwartungen an einen wissenschaftspropädeutischen Unterrichts verbindet, oder eine sorgfältige Erörterung der Frage, wie sich moralische Urteilsfähigkeit durch die Diskussion von Dilemmata fördern lässt.

Der abschließende vierte Teil bündelt die vorangehenden Überlegungen in einem Modell zur Unterrichtsplanung, das der Autor mit dem Bild einer Planungspyramide veranschaulicht, deren einzelne Segmente von der Spitze bis zur Basis die Abfolge der Reflexionsschritte der "Pragmatischen Didaktik" widerspiegeln. Unterrichtsplanung wird differenziert nach Strukturplanung für die Planung ganzer Unterrichtsreihen (Studie VIII) und Prozessplanung, durch die die Strukturplanung für kleinere Unterrichtseinheiten konkretisiert wird (Studie IX). In diesen beiden Studien findet der interessierte Leser ein höchst differenziertes Instrumentarium zur Unterrichtsplanung und er erhält eine Vielzahl von Impulsen, die ihn zum Nachdenken über seine eigene Planungspraxis anregen. In die Empfehlungen für die Feinplanung des Unterrichts (Studie IX) hat der Autor geradezu akribisch die gegenwärtig verfügbaren Befunde der empirischen Unterrichtsforschung eingearbeitet, die sich im Gefolge der Untersuchungen von Weinert und Helmke konzentriert hat auf die für den Lernerfolg relevanten Merkmale des Unterrichtsprozesses - oftmals auch apostrophiert als "Kriterien guten Unterrichts."

Fazit: Auf die alte, niemals freilich abschließend zu beantwortende Grundfrage einer jeden Allgemeinen Didaktik "warum welche Schüler was wie lernen sollen (und wie man nachhält, inwieweit dies auch geschieht)" [2] gibt die "Pragmatische Didaktik" eine zeitgemäße Antwort. Sie stellt darüber hinaus ein beeindruckendes Kompendium der Allgemeinen Didaktik bereit, in dem nicht nur die verschiedenen Ansätze konkurrierender didaktischer Schulen, sondern auch die Erkenntnisse der modernen Kognitionspsychologie, soweit sie für schulisches Lernen relevant sind, und die vielfältigen Ergebnisse der neueren empirischen Unterrichtsforschung auf eine sorgfältig argumentierende Weise miteinander verknüpft werden.


Anmerkungen:

[1] Wolfgang Klafki: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, 5. Aufl., Weinheim/Basel 1996, 272.

[2] Ewald Terhart: Über Traditionen und Innovationen oder: Wie geht es weiter mit der Allgemeinen Didaktik?, in: Zeitschrift für Pädagogik 51 (2005), H. 1, 12.

Rezension über:

Klaus Beyer: Pragmatische Didaktik. 9 Studien zur Förderung der Kompetenz zum vernünftigen Handeln, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2008, 461 S., ISBN 978-3-8340-0412-3, EUR 25,00

Rezension von:
H.G. Neugebauer
Studienseminar für Lehrämter an Schulen, Leverkusen
Empfohlene Zitierweise:
H.G. Neugebauer: Rezension von: Klaus Beyer: Pragmatische Didaktik. 9 Studien zur Förderung der Kompetenz zum vernünftigen Handeln, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2008, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 9 [15.09.2008], URL: https://www.sehepunkte.de/2008/09/14007.html


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