Anders als in Frankreich war die Aufklärung in Deutschland eine christliche, vor allem protestantisch geprägte Erscheinung, die wesentlich von Predigern, Pfarrern und Theologen getragen wurde. Dem Milieu der aufgeklärten Bildungselite Deutschlands im späten 18. Jahrhundert sind die vorliegenden Studien von Anne Conrad zur Religiosität und Sinndeutung gewidmet. Sie sind das Resultat einer jahrelangen Auseinandersetzung mit dem Forschungsfeld und begründen die von der Autorin herausgegebene Reihe "Religionsgeschichtliche Studien".
Anne Conrad fragt danach, "wie religiöse Sinnsysteme in der Spätaufklärung entwickelt wurden" (8) und "welche Rolle Religion in aufgeklärten Lebenswelten des späten 18. Jahrhunderts" (11) spielte. Dem vereinfachten Bild von der Aufklärung als Geburtsort der säkularisierten Moderne hält Conrad die plausible These entgegen, die Aufklärung habe "mit Religion nicht abgeschlossen, sondern ihr eine neue Wendung gegeben" (7). Das besondere Verdienst der Arbeit ist es, die "religiösen Synkretismen" (7) in den Blick zu nehmen, die dabei aus einer Verschmelzung konfessionell geprägter christlicher mit nicht-christlichen, esoterischen Denktraditionen entstanden. Conrad greift damit ein doppeltes Forschungsdefizit auf: zum einen den individuellen Wandel religiöser Vorstellungen, zum anderen die Bedeutung von Esoterik für die frühneuzeitliche Religionsgeschichte. Hier kann sie an neuere Arbeiten der historischen Esoterikforschung anknüpfen. [1]
Das Buch ist in drei große Teile gegliedert: Im ersten wird den Zusammenhängen zwischen Religion und Menschenbild in der Frühen Neuzeit nachgegangen. Der zweite Teil thematisiert die theologisch-ideengeschichtliche Entwicklung von der Neologie zur Esoterik. Im dritten Teil wird die individuelle Auseinandersetzung mit Religion zwischen Rationalismus und Schwärmerei anhand dreier Fallstudien veranschaulicht. Insgesamt wirkt diese Gliederungsstruktur etwas heterogen und lässt erkennen, dass das Buch aus der Weiterentwicklung teilweise bereits veröffentlichter Beiträge hervorgegangen ist.
In der Frühen Neuzeit gewann - so die Autorin im ersten Teil - die antike, auf Natur und Kosmos orientierte Anthropologie neue Bedeutung und verband sich mit einem mechanistischen Menschenbild. Doch zeigt die Beschäftigung mit der Wahrheitsfrage im Diskurs um die 'Volksaufklärung', dass die Selbstvergewisserung der Aufklärer stark auf ihr christliches Religionsverständnis bezogen blieb. Kontrovers wurde diskutiert, ob das 'Volk' seiner religiösen 'Illusionen' beraubt oder lieber bewusst getäuscht werden sollte, um die disziplinierende und moralische Funktion der Religion aufrechtzuerhalten.
Die Neologie entwickelte sich im 18. Jahrhundert zu einer populären Ausprägung lutherischer Theologie. Sie bestimmte das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung neu, indem 'Erfahrung' und 'Gefühl' als wichtige aufklärerische Kategorien miteinbezogen wurden. Johann Joachim Spalding und andere Neologen kritisierten traditionelle christliche Dogmen wie die Erbsündenlehre, die mit dem optimistischen Menschenbild der Aufklärer nicht vereinbar waren. Die Spätaufklärung legte die theologischen Widersprüche der Neologie offen und ebnete mit ihrem Streben nach 'höherer Erkenntnis' der Rezeption esoterischer Ideen den Weg.
Christliche und esoterische, auf das "Corpus Hermeticum" zurückgehende Vorstellungen wurden im späten 18. Jahrhundert ungehemmt miteinander verknüpft. Umschwebende Schutzgeister und Geisterseher wie der die Gelehrtenwelt faszinierende Emanuel Swedenborg waren in den 1780/90er Jahren ebenso salonfähige Diskussionsthemen wie die (christliche) Unsterblichkeit der Seele. Man eignete sich die 'alten Wahrheiten' der Weisheitstradition eklektisch an und integrierte sie in die individuelle Weltanschauung. Die Beschäftigung mit Esoterik war attraktiv, weil sie als 'rational' und 'vernunftgemäß' wahrgenommen wurde. Zu einer Amalgamierung jüdisch-christlicher und esoterischer Vorstellungen kam es auch in der Rezeption der alttestamentarischen Salomotradition, deren Tempelsymbolik in den Freimaurermythen und -ritualen des 18. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielte.
Methodisch klug ist die Auswahl einer weiblichen Gebildeten und zweier männlicher Gebildeter - Sophie Becker, Matthias Claudius, Friedrich Schleiermacher - für den dritten Teil des Buches, um die individuelle Auseinandersetzung mit Fragen von Religion und Sinndeutung in unterschiedlichen Lebenswelten exemplarisch zu veranschaulichen. Hier kommen auch die Bedeutung von Frauen in der aufklärerischen Kommunikation sowie über die Aufklärung hinausreichende Entwürfe einer 'neuen Religion' zur Sprache.
Verschiedene Indizien sprechen laut Anne Conrad dafür, das Schwanken der aufgeklärten Gebildeten "zwischen vernunftgemäßer Theologie und irrationaler Schwärmerei" (172) als einen Ausdruck von Säkularisierung zu verstehen: insbesondere die Verlagerung der Religiosität in Bereiche außerhalb traditioneller Theologie und Kirchlichkeit, die Abkehr von kirchlichen Autoritäten sowie ein kritisch-distanzierter, ja spielerischer Umgang mit religiösen Themen. [2] Im Blick auf die Individualisierung der Sinndeutung interpretiert Conrad auch die "Modeerscheinung" (173) der Konversionen protestantischer Gebildeter zum Katholizismus um 1800: Sie seien Ausdruck der Auswahlmöglichkeiten zwischen religiösen Alternativen und der Entscheidung für die subjektiv plausibelste 'Wahrheit'.
Anne Conrad liefert einen originellen und facettenreichen Beitrag für unser Verständnis von Religion in der Aufklärungszeit. Anschaulich demonstriert das Buch die Vielfalt an Sinndeutungen im ausgehenden 18. Jahrhundert, die von einem Neben- und Miteinander christlicher und esoterischer Bestandteile gekennzeichnet war. Überzeugend gelingt ihr der Nachweis der "Rationalität des Irrationalen" (9) in der Spätaufklärung, in der Gebildete Theologie mit 'Erfahrung' und 'Empfindung' verknüpften und ihre Neigung zu 'Schwärmerei' mit Mitteln der 'Vernunft' reflektierten.
Anmerkungen:
[1] Vgl. die Arbeiten von Monika Neugebauer-Wölk, programmatisch etwa: Esoterik in der Frühen Neuzeit. Zum Paradigma der Religionsgeschichte zwischen Mittelalter und Moderne, in: Zeitschrift für Historische Forschung 27 (2000), 321-364. Ebenfalls grundlegend: Anne-Charlotte Trepp / Hartmut Lehmann (Hgg.): Antike Weisheit und kulturelle Praxis. Hermetismus in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2001.
[2] Vgl. hierzu: Matthias Pohlig / Ute Lotz-Heumann / Vera Isaiasz / Ruth Schilling / Heike Bock / Stefan Ehrenpreis: Säkularisierungen in der Frühen Neuzeit. Methodische Probleme und empirische Fallstudien, erscheint Berlin 2008.
Anne Conrad: Rationalismus und Schwärmerei. Studien zur Religiosität und Sinndeutung in der Spätaufklärung (= Religionsgeschichtliche Studien; Bd. 1), Hamburg: Dobu 2008, 217 S., ISBN 978-3-934632-25-7, EUR 28,80
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