Der neunte Band der vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales und dem Bundesarchiv herausgegebenen "Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945" beschreibt die DDR in der Dekade zwischen Mauerbau und politischer Stabilisierung in den Jahren 1961 bis 1971. Der von Christoph Kleßmann als Bandherausgeber verantwortete Band ist wie die anderen der auf elf Bände konzipierten Reihe aufgebaut. Nach einer Beschreibung der politischen Rahmenbedingungen (Christoph Kleßmann) folgt die Nachzeichnung der gesellschaftlichen Strukturen und sozialpolitischen Handlungsfelder (Peter Hübner). In einem dritten Hauptkapitel werden dann in siebzehn thematischen Einzelbeiträgen die sozialpolitischen Entwicklungen von Arbeitsverfassung und Arbeitsrecht über Arbeitsschutz und Gesundheitswesen bis hin zu Renten-, Familien- und Bildungspolitik sowie internationaler Sozialpolitik beschrieben. Eine abschließende Gesamtbetrachtung des Bandherausgebers beschließt den Textteil dieses Handbuchs, das von umfangreichen Verzeichnissen und Indexen sowie 157 auf einer CD-ROM beigelegten Dokumenten ergänzt wird. Die einzelnen Beiträge sind außer von Historikern auch von einem Juristen, einer Germanistin, von Soziologen und Politologen verfasst.
Die hier herauspräparierte "Ökonomisierung" als sozialpolitischer Leitbegriff der Dekade verweist auf das Profil der ansonsten programmatisch wenig hervortretenden Sozialpolitik der DDR. Die Stabilisierung und Modernisierung nach dem Mauerbau - dem "heimlichen Gründungstag" der DDR (Dietrich Staritz) - stellte das Ziel dar, das sich in diesem Reformjahrzehnt immer weniger erreichen ließ. Die Eigengesetzlichkeiten und damit Risiken der Ökonomisierung gefährdeten den politischen Primat der Herrschaftssicherung in der Arbeitsgesellschaft DDR. Dieses Grunddilemma der Sozialpolitik lässt sich in fast allen Bereichen feststellen.
Die Abhängigkeit der Sozialpolitik von wirtschaftlichen Entwicklungen wird in allen Beiträgen deutlich, sei es bei Peter Hübner über Arbeitsverfassung und Arbeitsrecht sowie zur Betriebszentrierung der Sozialpolitik, sei es bei Lutz Wienhold über den Arbeitsschutz oder Jörg Roesler über die Arbeitsmarktpolitik und die Integration von Ausländern durch Einbindung in den Arbeitsmarkt. Dierk Hoffmann erläutert in zwei Beiträgen zur Organisation und zum Recht auf soziale Leistungen wie zur Sicherung bei Alter, Invalidität etc. die Verzahnung zwischen Sozialversicherung und Arbeitsgesetz in der DDR. Das hier fehlende Sozialgesetzbuch (im Vergleich zur Bundesrepublik) zeigte an, wie soziale Regelungen dem Arbeitsrecht weitgehend untergeordnet blieben (270).
In dem Beitrag von Jürgen Wasem wird neben der Beschreibung der hier bereits früh thematisierten "Ökonomik" und Effizienz des Gesundheitswesens in einem Exkurs die Frage der Betreuung zerebral geschädigter Kinder verfolgt. Dabei bilden sich exemplarisch die Schwierigkeiten einer Rationalisierung und die im internationalen Rahmen nur begrenzten Verbesserungen im medizintechnischen und diagnostischen Gebiet ab. Namentlich die Heimfürsorge für Behinderte lag vor allem bei den konfessionellen (evangelischen) Trägern, die nach einer Stabilisierung der Refinanzierungsregelungen einer "Umprofilierung" ihrer Arbeit unterlagen, die sich auf bildungsunfähige Kinder und Behinderte bezog. Für die sozialen Dienste und die soziale Infrastruktur der DDR waren die 1960er Jahre eine Phase des Übergangs, in der die konzeptionell-programmatischen Ziele der unmittelbaren Nachkriegszeit und der 1950er Jahre ihre Wirkmächtigkeit einbüßten, doch neue Prioritäten sich noch nicht durchsetzen konnten.
Bei den "Quasi-Gründungsvätern der DDR" (633), den Widerstandskämpfern, zeigte sich eine politisch motivierte sozialpolitische Differenzierung, auf die Constantin Goschler hinweist. In der Höhe der Ehrenpension wurde seit 1965 zwischen nur "Verfolgten" und Widerstandskämpfern unterschieden (600 gegenüber 800 Mark; siehe Dokument Nr. 51 auf der CD-ROM), die zudem nur in der DDR Lebende erhalten konnten, was die Abgrenzung zum konkurrierenden westdeutschen Staat deutlich machte. Dies bedeutete eine Abkehr vom Schadens- zum politischen Leistungsprinzip, was insbesondere andere Opfergruppen - vor allem Juden in der ihnen zugeschriebenen "Rolle einer musealisierten Gruppe" (634) - zurücksetzte.
Abschließend bilanziert Christoph Kleßmann die Kontinuitäten und Neuerungen in den Einzelfeldern der Sozialpolitik in der DDR und hebt am Beispiel der von André Steiner beschriebenen Preispolitik die immanenten Grenzen des Ausbaus der Sozialpolitik hervor. Die Instrumentalisierung der Sozial- und Gesundheitspolitik für den Legitimationsanspruch der SED und die Unterstreichung der eigenen Zwei-Staaten-Theorie steigerte ihre Bedeutung im Rahmen der deutschlandpolitischen Konkurrenz. In allen Feldern wurden am Ende der Ulbrichtzeit deutliche Anfragen an Finanzierbarkeit und Einholung der sozialpolitischen Versprechen gemacht, welche jedoch letztlich nur die Grenzen des Regimes zum Ausdruck brachten, das die dadurch hervorgerufenen Zumutungen angesichts der unkalkulierbaren Folgen scheute.
Alle Beiträge sind auf einem hohen wissenschaftlichen Niveau angesiedelt und profitieren von einer mittlerweile gewachsenen Breite der sozialgeschichtlichen Erforschung der DDR. Sie werden dem Anspruch eines Handbuches über die Geschichte der deutschen Sozialpolitik durchaus gerecht. Gewisse Redundanzen sind angesichts des Zuschnitts der einzelnen Themen nicht zu vermeiden. Die bereits erwähnten umfangreichen Register sowie die beiliegende CD-ROM mit Dokumenten runden den guten Gesamteindruck ab. Die Weiterverfolgung der hier angedeuteten Entwicklungslinien im folgenden zehnten Band der Reihe kann als fast sicher gelten. Insgesamt stellt der neunte Band einen guten Überblick für das Übergangsjahrzehnt der Sozialpolitik der DDR dar.
Christoph Kleßmann (Hg.): Deutsche Demokratische Republik 1961-1971. Politische Stabilisierung und wirtschaftliche Mobilisierung (= Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945; Bd. 9), Baden-Baden: NOMOS 2006, XII + 934 S., 1 CD-ROM, ISBN 978-3-7890-7329-8, EUR 149,00
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