Es mag unpassend erscheinen, dieses Buch in einem (kunst)historischen Rezensionsjournal zu besprechen. Wenn ich es hier trotzdem unternehme, dann aus einem einfachen Grund: Auch die Inhalte unserer Fächer wandern immer mehr (und irgendwann komplett?) in den digitalen Datenraum, konkreter ins Internet, ab. Und dort haben wir ein Problem mit ihnen: Wir müssen sie finden! Nicht, dass dieses Problem im analogen Datenraum nicht auch existiert. Dort aber haben sich einerseits im Laufe von Jahrhunderten hoch differenzierte Erschließungssysteme entwickelt (dazu gehört etwa die Sacherschließung in der Bibliothek), andererseits aber ist etwa ein gedruckter Text natürlich nicht bis auf die unterste Ebene von Buchstabe und Wort adressierbar, damit in seinem Erschließungspotential begrenzt.
Auch das in dem vorliegenden Buch thematisierte Verfahren des social tagging (oder: gemeinschaftlichen Indexierens) hat seinen sehr rezenten Ursprung in der rasend schnell ansteigenden Datenmenge des Internets. Volltextrecherchen bieten sich für die Suche nur in begrenztem Umfang an (vgl. in dem vorliegenden Buch den Aufsatz von Georg Güntner, Rolf Sint und Rupert Westenthaler: Ein Ansatz zur Unterstützung traditioneller Klassifikation durch Social Tagging, hier: 189f.), optimiert werden sie über hoch entwickelte Verfahren, wie sie etwa die google-Suchmaschine anbietet. Aber abgesehen davon, dass bei solchen Suchen meist unüberschaubare Ergebnismengen resultieren: Andere Medien, wie Bilder und Töne sind vorderhand nicht über Volltextsuchen zu finden. Also muss - zumindest ergänzend - etwas anderes her. Und das ist die Indexierung mit Metadaten.
Traditionell sind die nicht-sprachlichen Medien von Informationsprofis beschlagwortet und damit wieder auffindbar gemacht worden. Bei der Schnelligkeit des Datenwachstums im Internet dürfte das in Zukunft nicht mehr ausreichen, da niemand in der Lage sein wird, alle diese Personen zu finanzieren. Das gilt auch für Kunstwerke: manche Bilddatenbanken beinhalten jetzt schon 2 Millionen Reproduktionen, bei auch nur einigermaßen breiter Berücksichtigung von Kunsthandwerk, Graphik und Zeichnungen, zu schweigen von der "World Art", dürfte sich diese Menge leicht verzehnfachen lassen.
Die Grundidee des social tagging besteht nun darin, die Arbeit des Beschlagwortens/ Indexierens auf die Breite der Internet-Nutzer zu verlagern und dies so zu organisieren, dass diese ohne die übliche Bezahlung agieren. Bislang ist das vor allem in solchen populären Diensten wie flickr (eine Fotodatenbank) und delicious (zur Indexierung von Webseiten) geschehen. Und zwar darum, weil das eigene Engagement durch das der anderen ergänzt wird, von dem man auch selber profitiert. In der Wissenschaft ist das Verfahren noch kaum angekommen. Und das natürlich mit Grund: Die Skepsis dürfte groß sein, dass die Qualität der Dateneingabe dann entscheidend abnimmt, wenn man sie Amateuren überlässt.
Auch das vorliegende Buch gibt hierüber nur wenig explizite Auskunft. Allzu sehr ist man damit beschäftigt, die Theorie und Praxis des social tagging als solche zu thematisieren, die genannten Anwendungs-Beispiele beschränken sich gewöhnlich auf den populären und den kommerziellen Bereich. Und dort, wo die Wissenschaft in den Blick gerät, da beschränken sich die Autoren auf den Aspekt der Vermittlung (vgl. den Aufsatz von Mandy Schiefner: Social tagging in der universitären Lehre, 73ff. und Andreas Harrer und Steffen Lohmann: Potenziale von Tagging als partizipative Methode für Lehrportale und E-Learning -Kurse, 97ff)
Indirekt aber kreisen eine ganze Reihe von Beiträgen um die qualitative Verbesserung der Indexierung, die natürlich in hohem Maße missbrauchsanfällig ist, wenn man sie der anonymen Masse der Internet-Nutzer überlässt. Hier wäre insbesondere auf die Aufsätze im vierten Teil ("Tagging im Semantic Web") zu verweisen, die das Grundproblem des Taggens am deutlichsten benennen, aber gleichzeitig Abhilfe versprechen. Vorgeschlagen wird hier in verschiedenen Variationen, das flache Tagging, dessen Problemlosigkeit mit einer mangelnden Schärfe und Kontrolliertheit einhergeht, durch Kombination mit geläufigem kontrollierten Wortschatz, Thesauri, Ontologien etc. zu verbessern. In dem Bereich wird man sich auf jeden Fall noch vieles erwarten dürfen.
Bislang wird das Taggen durch den Nutzer sporadisch für die Sacherschließung von Büchern genutzt. Das Problem dabei: Man muss ein Buch erst einmal gelesen haben, bevor man es verschlagworten kann. Vielversprechender scheint mir das Verfahren bei Bildern, die ja unmittelbar präsent sind und sich der Indexierung anbieten.
In diesem Feld ist von dem US-amerikanischen Informatiker Luis von Ahn im Übrigen eine Methode eingeführt worden, die gegenüber der Grundproblematik des einfachen Taggens schon entscheidende Verbesserungen garantiert (und die in dem vorliegenden Buch merkwürdigerweise nicht vorkommt). Er lässt Bilder von zwei gleichzeitig Taggenden indexieren und übernimmt die Angaben nur dann, wenn beide die gleichen gemacht haben (http://www.gwap.com/gwap/). Das nennt er dann "games with a purpose", das Spielerische dabei erhöht den Wettbewerbscharakter und animiert Tausende von Kollaborateuren zu teilweise exzessivem Engagement. Eine ebenso simple wie geniale Idee, um Missbrauch auszuschließen. Ob auf diesem Weg auch hochqualitative Erschließungen zu erzielen sind, die dem Standard professioneller Eingaben gleichkommen, wird sich zeigen. Aber auch hier dürfte gelten: Die Masse macht's. Wenn mehrere Tausend oder gar Hunderttausend mitspielen, ist automatisch auch Komplexes dabei. Im Übrigen: Warum sollten nicht bei der freien Dateneingabe auch mal wertvolle Dinge herauskommen, Ungewöhnliches, das sich der Wissenschaftler schon aus professionellem Ethos verkneift?
Wenn man den faszinierenden Ansatz des social taggings in seinen grundsätzlichen Aspekten besser verstehen will, sollte man begleitend ein paar allgemeinere Bücher lesen. Dazu gehört vor allem James Surowiecki's "Wisdom of crowds" [1], David Weinbergers "Everything is miscellaneous: the power of the new digital disorder" [2] und Clay Shirkys "Here comes everybody: the power of organizing without organizations" [3]. Aber Achtung: Wer sich der Sache mit den vor allem in Kunsthistorikerkreisen verbreiteten Borniertheit nähert, die alles konzeptionell und technisch Innovative für Teufelszeug hält und schon das Spielerische des Ansatzes naserümpfend beäugt, sollte doch lieber die Finger davon lassen und das weiterverfolgen, was er immer schon praktiziert hat!
Der Verlag ist dafür zu loben, dass er den Volltext des Buches online zur Verfügung stellt (http://www.waxmann.com/kat/inhalt/2039Volltext.pdf; PDF-Dokument). Es dürfte interessant sein zu erfahren, ob dadurch - wie es manche Untersuchungen suggerieren - der Verkauf des gedruckten Buches nicht etwa behindert, sondern sogar befördert wird. Weniger zu loben ist er dafür, dass er das macht, was heutzutage fast alle Wissenschaftsverlage tun: Er hat das eingelieferte Manuskript offenbar mehr oder weniger unbesehen übernommen und dabei auch serienweise orthographische, grammatikalische und stilistische Fehler. Aber wer weiß: Vielleicht wird sich einmal ein Programmierer finden, der eine social tagging-Anwendung gestaltet, mit der die Internet-Nutzer gemeinschaftlich die Fehler in online-Publikationen korrigieren!
Anmerkungen:
[1] New York 2004, deutsch München 2005.
[2] New York 2007.
[3] New York 2008.
Birgit Gaiser / Thorsten Hampel / Stefanie Panke (Hgg.): Good Tags - Bad Tags. Social Tagging in der Wissensorganisation (= Medien in der Wissenschaft; Bd. 47), Münster: Waxmann 2008, 234 S., ISBN 978-3-8309-2039-7, EUR 29,90
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