Die rechtswissenschaftliche Dissertation von Katrin Hassel, die am Internationalen Forschungs- und Dokumentationszentrum Kriegsverbrecherprozesse der Philipps-Universität Marburg entstand und an der Leibniz-Universität Hannover eingereicht wurde, schließt eine lange bestehende Forschungslücke. Sie befasst sich in fünf Kapiteln mit den Leipziger Kriegsverbrecherprozessen nach 1918, den rechtlichen Voraussetzungen der Aburteilung von Kriegsverbrechern durch die Alliierten nach 1945, der britischen Rechtsgrundlage des Royal Warrant vom 18. Juni 1945 und wertet die Prozesse statistisch aus, um abschließend ihre Bedeutung für das Völkerstrafrecht darzulegen. Die Arbeit wird durch Abbildungen von Dokumenten, Statistiken und ausführliche Anhänge aufgelockert, der Gesamttext ist selbst für Nichtjuristen gut lesbar. Zu loben ist auch die Zusammenfassung der Arbeit, die die Ergebnisse gut und übersichtlich präsentiert.
Unverständlich ist, warum sich immerhin fast 50 Seiten des 342-seitigen Buches mit den Leipziger Prozessen von 1921 bis 1927 befassen, bei denen weder internationale Gerichte tätig waren noch Völkerstrafrecht zur Anwendung kam. Lediglich die Einsicht der Siegermächte, die Aburteilung von Kriegsverbrechen diesmal nicht den Deutschen zu überlassen, sei, so die Autorin, die Lehre aus Leipzig gewesen. War es aber nicht vielmehr so, dass die Alliierten wussten, dass der als ideologischer Vernichtungsfeldzug angelegte Zweite Weltkrieg mit dem im Wesentlichen konventionell geführten Ersten Weltkrieg nicht zu vergleichen war und dass die Ahndung von Kriegsverbrechen zwangsläufig völlig anders aussehen musste? Dass die Ermordung und Versklavung weiter Teile der Zivilbevölkerung Osteuropas unter deutscher Besatzungsherrschaft nicht mehr mit einer Handvoll von Prozessen vor dem Reichsgericht abzuhandeln war, dürfte auch ohne das abschreckende Leipziger Beispiel klar gewesen sein.
Die Darlegung der Voraussetzungen für die Verfahren gerät minutiös, aber auch recht langatmig, wobei die verschiedenen Fassungen des Royal Warrant und seiner Ergänzungen als Rechtsgrundlage verglichen werden. Zum eigentlichen Thema dringt man erst in der Mitte des Buches vor. Hier konzentriert sich das Werk auf das Verfahrensrecht und die statistische Auswertung, sodass der Leser viel erfährt über rechtliche Zuständigkeiten, die Gerichtsbesetzung und Verfahrensorte. Verdienstvoll ist, dass endgültige Zahlen zu den Militärgerichtsprozessen in der britischen Zone präsentiert werden. Während bisher von etwas über 1000 (1085) Angeklagten ausgegangen worden war, stellt Katrin Hassel 329 Prozesse mit lediglich 964 Angeklagten fest. Die meisten dieser Verfahren fanden 1946 statt, viele von ihnen in Hamburg. 661 Angeklagte (fast 70 Prozent) wurden verurteilt, der Rest wurde freigesprochen bzw. ohne Urteil auf freien Fuß gesetzt. Zum Tod verurteilt wurden 194 Angeklagte (20 Prozent). Wenig überraschend ist, dass etwa 90 Prozent aller Täter männlich waren. Im Urteil der Autorin (239) waren die meisten Täter bis auf einige Ausnahmefälle keine hochrangigen Militärs, sondern vielmehr Mannschaftsdienstgrade, Polizisten und Zivilisten. Hier drängt sich der Verdacht auf, dass die Autorin - wie noch ausgeführt wird - hohe SS-Dienstgrade völlig unberücksichtigt gelassen hat. Bei den abgeurteilten Taten traten vor allem Misshandlungen und Tötungen alliierter Kriegsgefangener bzw. die Verbrechen in Konzentrationslagern mit 92 bzw. 80 Prozessen zahlenmäßig häufig hervor. Die starke Ausdifferenzierung der einzelnen Statistiken (nach Jahren, nach Geschlecht, Strafarten) wirkt bald repetitiv. Hilfreich ist die Auflistung sämtlicher Angeklagter mit den Strafen im Anhang des Buches, wenngleich nicht alle Namen korrekt erfasst sind. Unklar bleibt bei der Liste, ob es sich auch um Urteile in der Revisionsinstanz handelt, was die in der Forschung kursierenden abweichenden Zahlenangaben zu den Prozessen erklären würde.
Verlässt die Autorin ihr eigentliches Thema, bewegt sie sich schnell auf dünnem Eis. Die Erläuterung, die britischen Militärgerichte hätten sich keineswegs nur für die britischen Opfer verantwortlich gefühlt, ist obsolet - die Briten mussten schon allein wegen des Commonwealth den Staatsangehörigen der Dominions diesbezüglich den gleichen Status einräumen (174, 220). Die nazistischen Verbrechen in den Ausländerkinderpflegestätten werden - augenscheinlich in Unkenntnis der umfangreichen diesbezüglichen Forschung - langatmig eingeführt und erklärt (81). Der D-Day wird flugs auf September 1944 verlegt (104), der amerikanische Einsatzgruppen-Prozess mit dem "High Command Trial" (gegen das Oberkommando der Wehrmacht) (67) verwechselt. Das Regest für den Prozess gegen Bruno Tesch, der das Giftgas nach Auschwitz-Birkenau lieferte, lautet unbeholfen "Mittäterschaft deutscher Fabrikanten am Mord an in Konzentrationslagern internierten Zivilisten durch Giftgas" (73), das im Elsass gelegene KZ Natzweiler-Struthof mutiert zu (dem hunderte Kilometer östlich, nämlich bei Danzig befindlichen) "Stut[t]hof" (75). Die Autorin beklagt die Unmöglichkeit des Zahlenvergleichs der Prozesse zwischen den einzelnen Besatzungsmächten (178) und ignoriert dabei die Forschungsergebnisse von Yveline Pendaries zur französischen Zone und die Überblicksdarstellung von Robert Sigel zu den amerikanischen Dachauer Prozessen. [1] Interdependenzen zwischen den Ahndungsbestrebungen der westlichen Alliierten bleiben der Autorin damit verborgen. Der Lagerkommandant von Auschwitz-Birkenau und Natzweiler, SS-Obersturmbannführer Fritz Hartjenstein, wurde sowohl von einem britischen als auch einem französischen Militärgericht zum Tod verurteilt. Bei dem Ravensbrücker Arbeitseinsatzführer Hans Pflaum (304) und dem KZ-Kommandanten Fritz Suhren (313) nennt die Autorin den Urteilsspruch "unbekannt", obwohl bekannt ist, dass beide nach einer Anklage durch ein britisches Militärgericht aus der Haft flohen und nach ihrer Wiederergreifung 1950 von den Franzosen in Rastatt zum Tod verurteilt und hingerichtet wurden. Bei dem KZ-Funktionär Arnold Strippel (312) ist der Verfasserin sowohl der Vorname als auch der Verfahrensausgang unbekannt - selbst über Google und Wikipedia ist hier mehr zu erfahren.
Zum Tatgegenstand der Verfahren bietet die Arbeit keine inhaltlichen Analysen. Wer sich für die britischen Militärgerichtsprozesse zu den KZ Neuengamme, Bergen-Belsen oder Ravensbrück interessiert, wird zur Einführung weiterhin zu dem Band "Die frühen Nachkriegsprozesse" greifen. [2] Durch die Vernachlässigung der inhaltlichen Seite entgeht der Autorin das kuriose Phänomen, dass die westlichen Alliierten zwar die "richtigen" Täter hatten, sie aber gleichwohl - historisch gesehen - für die "falschen" (weil geringfügigeren) Verbrechen zur Rechenschaft zogen, indem sie die Straftaten an westalliierten Opfern in das Zentrum ihrer Ahndungsbemühungen stellten.
Der frühere Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (BdS) im Generalgouvernement, SS-Brigadeführer Dr. Eberhard Schöngarth (bei Hassel fälschlich Schöngrath, 79, 309): Hingerichtet für die Tötung eines alliierten Fliegers in den Niederlanden. Der ehemalige Angehörige des Stabs der Einsatzgruppe B und Kommandeur der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (KdS) Weißruthenien in Minsk, SS-Standartenführer Dr. Erich Isselhorst: Exekutiert wegen der Tötung britischer Kriegsgefangener in seiner Funktion als BdS Südwest mit Sitz in Straßburg. Der Marburger Arzt und ehemalige Lagerarzt in Auschwitz-Birkenau, Dr. Werner Rohde (bei Hassel fälschlich Rhode, 75): Todesurteil vollstreckt wegen der Tötung von vier britischen Agentinnen im KZ Natzweiler-Struthof. Der letzte KZ-Kommandant von Groß-Rosen, SS-Sturmbannführer Johannes Hassebroek: Verurteilt wegen der Erschießung von 16 kriegsgefangenen britischen Offizieren. Der ehemalige stellvertretende Höhere SS- und Polizeiführer (HSSPF) Russland-Mitte, SS-Gruppenführer Georg Graf von Bassewitz-Behr: Angeklagt und freigesprochen als HSSPF Nordsee mit Sitz in Hamburg (wenngleich später an die Sowjetunion ausgeliefert). Dies alles ist bequem etwa in Ernst Klees Personenlexikon zum 'Dritten Reich' nachzulesen. Wenn sich die Verfasserin schon so wenig für ihre Protagonisten auf der Anklagebank interessiert, wird es dem Leser um so schwerer fallen, große Begeisterung für das ohnehin übermäßig teure Buch aufzubringen.
Anmerkungen:
[1] Yveline Pendaries: Les procès de Rastatt (1946-1954). Le jugement des crimes de guerre en zone française d'occupation en Allemagne, Bern/Berlin/Frankfurt a. M./New York/Paris/Wien 1995; Robert Sigel: Im Interesse der Gerechtigkeit. Die Dachauer Kriegsverbrecherprozesse 1945-1948, Frankfurt a.M./New York 1992.
[2] Die frühen Nachkriegsprozesse. Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, Heft 3, Bremen 1997.
Katrin Hassel: Kriegsverbrechen vor Gericht. Die Kriegsverbrecherprozesse vor Militärgerichten in der britischen Besatzungszone unter dem Royal Warrant vom 18. Juni 1945 (1945-1949), Baden-Baden: NOMOS 2008, 354 S., ISBN 978-3-8329-3825-3, EUR 85,00
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