Eine allgemeinverständliche, einführende Euripides-Monographie von etwa 250 Seiten zu verfassen, stellt eine nicht zu unterschätzende Aufgabe dar. Wenn in dieser alle seiner 18 überlieferten Dramen in ihrem Handlungsablauf vorgestellt, in ihren wesentlichen (auch metrischen) Eigenarten erläutert und hinsichtlich möglicher innewohnender Intentionen interpretiert werden sollen, wenn Euripides' Konzeption(en) von Tragik herausgearbeitet werden und das Oeuvre des dritten der großen Tragiker des 5. Jahrhunderts sowohl in seiner Dynamik als auch seine Verankerung in der Ereignis- wie Literaturgeschichte seiner Entstehungszeit gezeigt werden sollen, wird die anspruchsvolle zu einer nahezu unlösbaren Aufgabe. Man wird sagen können, dass Hoses vorliegende Euripides-Monographie ihr wie keine andere - und nicht nur im deutschsprachigen Raum - gerecht wird.
Hose führt den Leser nach einem kurzen Vorwort in drei einleitenden Kapiteln zur Besprechung der einzelnen Stücke, die mit etwa 230 Seiten das Herzstück der Monographie bildet. Eine kurze Betrachtung der "tragischen Kunst des Euripides" sowie bibliographische Hinweise und Register schließen das Buch ab.
Im Vorwort nennt der Verfasser die Grundannahme seiner Monographie sowie die Absicht, die er mit ihr verfolgt: Euripides sei eher daran interessiert gewesen, sein Publikum auf wichtige Fragen zu stoßen, als sie zu lösen. Anliegen der vorliegenden Monographie sei es, die spezifisch euripideische Verarbeitung des Tragischen herauszuarbeiten, die nach Hose darin besteht, dass verschiedene Tragik-Konzepte einander ablösten, wann immer der Dichter eines erschöpfend behandelt zu haben meinte. Der Wandel, die Veränderung sei nicht nur das Charakteristikum der Geschichte der Pentekontaetie und erst recht der nachfolgenden Zeit, sondern auch das der euripideischen Konzeption des Tragischen. Teilt Hose so die Grundannahme Leskys, so gibt er auf die Frage, die jener sich zu beantworten scheut, nämlich die nach einer umfassenden Charakteristik des Werks, die Antwort: Eben das Sich-Verändern der euripideischen Tragik-Konzepte stelle dessen genuine Eigenschaft dar. Mit dieser das Gesamtwerk umfassenden These geht Hose auch einen entscheidenden Schritt weiter als Matthiessen in seinen vor wenigen Jahren erschienenen Euripides-Studien. In nuce enthält das knappe Vorwort damit, was in den folgenden drei Kapiteln theoretisch und im Durchgang der einzelnen Stücke praktisch ausgeführt werden wird.
Im ersten der drei erwähnten einleitenden Abschnitte ("Der Dichter in der Unterwelt") wird -die Frösche des Aristophanes dienen als Leitfaden der Schilderung - eine kurze Einleitung in den 'Komplex' Tragödie gegeben und nach den Aspekten gefragt, in denen sich die Dramen des Euripides insbesondere von denen seiner beiden großen Kollegen unterscheiden, wobei sich die Darstellung auch inhaltlich im wesentlichen an den bei Aristophanes genannten Punkten orientiert. Hinsichtlich der Rezeption der euripideischen Dramen durch das (nicht nur antike) Publikum - und damit einhergehend auch ihrer Funktions- und Wirkweisen - im Vergleich zu denen des Aischylos und Sophokles hätte man sich hier auf weitergehende Ausführungen und Einschätzungen des Verfassers gefreut, die über das Urteil des Aristophanes hinausgehen; in Fachbeiträgen hat Hose dazu ja jüngst Wesentliches gesagt. Allein die im Vorwort dargelegte Entscheidung, mit Rücksicht auf den Umfang des Buches gänzlich auf die Darstellung der Euripides-Rezeption zu verzichten, wird eine in der Sache zwar zu bedauernde, aber nachvollziehbare Reduktion erfordert haben.
Im Abschnitt "Prägungen? Euripides und das 'Zeitalter des Perikles'" arbeitet Hose vor allem den bereits erwähnten Aspekt des rasanten gesellschafts- wie außenpolitischen Wandels der Jahrzehnte aus, in denen Euripides aufwuchs, geprägt wurde und literarisch tätig zu werden begann. Die Intention dabei ist im Anschluss an Lessing durchaus - und explizit gesagt (19) - die, über unterschiedliche jugendliche Prägungen Aufschlüsse auch über die Unterschiede zwischen einem Euripides und Aischylos bzw. Sophokles zu gewinnen, obgleich von Hose konstatiert wird, dass aus den spärlichen Angaben über das Leben des Euripides keine Hilfe für die Interpretation des Werks zu erwarten ist. Damit stellt sich allerdings die Frage, ob das erwähnte traditionelle Heranziehen der unterschiedlichen Prägungen während der - stets als besonders prägend verstandenen Jugendjahre - wirklich eine befriedigende Erklärung etwa für die Unterschiede zwischen den Dramenkonzeptionen, den Charakteren jedes Oeuvres bzw. den spezifischen Arbeitsweisen der drei Tragiker zu geben vermag. Anders verhält es sich mit dem Aufzeigen der Bezugnahmen auf und der Einbettung in das vor allem politische und die Polis betreffende Geschehen einzelner Dramen, worauf in der gesamten Monographie und insbesondere in den die einzelnen Stücke einleitenden Partien immer wieder hingewiesen wird.
Im letzten der einleitenden Abschnitte ("Die Arbeit des Tragödiendichters") wird auf acht Seiten eine knappe Einführung in die Aufführungspraxis der Tragödien im 5. Jahrhundert in Athen gegeben, die auch die Stoffauswahl der Dramatiker, die metrischen Aspekte der Tragödie sowie eine Werkschronologie (die sich mit Ausnahme der Reihenfolge von Bakchen und Aulischer Iphigenie mit der bei Matthiessen deckt) beinhaltet.
Die sich anschließende Besprechung der einzelnen Stücke erfolgt in sechs Gruppen. Eine solche Vorgehensweise ist an sich nicht neu (Lesky), doch zeigt sich im Folgenden, wie viel für das Verständnis, v.a. aber auch das interpretierende Nachempfinden der antiken Stücke für den modernen Leser durch die vorweg angekündigte Annahme, von einander ablösenden Tragik-Konzeptionen bei Euripides auszugehen, gewonnen wird: Über das seit jeher betriebene Aufzeigen von inhaltlichen wie formalen Ähnlichkeiten hinaus arbeitet Hose die einzelnen Tragik-Konzepte - und dies heißt im Falle des Euripides: Fragestellungen! - als Kerne dessen heraus, was die seit langem empfundene Nähe mancher Dramen zueinander bewirkt und was die Rezeption der Stücke eben auch heute noch reizvoll und gewinnend macht. Dabei werden Alkestis, Medea und Hippolytos unter dem Stichwort "Rollenkonflikte als Tragödie", Herakliden, Hiketiden, Andromache und Hekabe unter der Überschrift "Krieg und Tragödie", Elektra und Herakles unter dem Motto "Selbstzerstörung des Menschen" (woran sich die Darstellung der Troerinnen bzw. der Trojanischen Trilogie anschließt), Helena, Iphigenie bei den Taurern und Ion unter der Fragestellung "Die Macht des Schicksals?", Phönissen und Orestes unter dem Aspekt "Die Zerstörung der Polis" und, den Durchgang der erhaltenen Tragödien beschließend, Bakchen und Iphigenie in Aulis unter der Überschrift "Ende oder neuer Anfang?" behandelt. Auf den Kyklops wird in einem Epilog ("Euripides als Satyrspieldichter - Der Kyklops") eingegangen.
Das im Vorwort vom Verfasser formulierte Bestreben, Kontroversen zur Interpretation der einzelnen Stücke nicht unbedingt entscheiden als vielmehr zur Ausgangslage der eigenen Interpretation nehmen zu wollen (was ja der Konzeption der Monographie auch für nicht-philologische Leser durchaus entspricht), wird dabei eingehalten. Die Darstellung ist detailreich und sehr gut lesbar zugleich, wobei vor allem eine kleine, aber feine Appendix im Anschluss an die Besprechung des Herakles hervorzuheben ist, in der auf gut sechs Seiten prägnant und anschaulich Funktion und Entwicklung des Lyrischen in den Stücken des Euripides analysiert und vorgestellt wird. Eine besondere Stärke der vorliegenden Monographie liegt im Gesamt der Darstellung aller Stücke: Wie sie zueinander in Bezug gesetzt werden, wie eine Entwicklungslinie von Dramen- und Tragikkonzeptionen aufgezeigt wird, wie Euripides' Perspektivänderungen und Akzentverschiebungen herausgearbeitet werden - und vor allem, welche Fragen er in seinen Stücken stellt. Ausführlichere und dezidiertere Interpretationen der Einzelstücke bleiben - und sollen es auch! - separaten Studien vorbehalten.
Gesonderte Erwähnung verdienen die bibliographischen Hinweise am Ende des Buches, die sinnvollerweise nicht möglichst umfassend gegeben werden, dafür aber aufgrund ihrer ausformulierten und kommentierenden Darstellung eine äußerst nützliche Ausgangslage für eigene, weitergehende Beschäftigungen mit Euripides oder einzelnen seiner Stücke gewähren. Das Interesse hierfür und die Lust geweckt zu haben, sich dem Euirpides zu nähern und sich auf ihn und seine Themen einzulassen, ist das vielleicht größte Verdienst der vorliegenden Euripides-Monographie, die nachzulesen und nachzuschlagen sich immer wieder lohnt und lohnen wird.
Martin Hose: Euripides. Der Dichter der Leidenschaften, München: C.H.Beck 2008, 256 S., ISBN 978-3-406-57236-4, EUR 24,90
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