Unter den Gedenkstätten Berlins nimmt die Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde, im Süden des Bezirks Tempelhof gelegen, eine scheinbar periphere Rolle ein. Tatsächlich ist sie mit über 1,3 Millionen Flüchtlingen aus der DDR, die das Lager zwischen seiner Gründung 1953 und 1990 passierten, ein wichtiger Erinnerungsort der deutschen Teilungsgeschichte. Hier bündelten sich individuelle Schicksale zwischen totalitärer Gewaltherrschaft der SED und bürokratischer Aufnahme- und Verteilungsprozedur im Westen zu einem Kapitel der Ost-West-Beziehungen, das heute in der sehr eindrucksvollen und anschaulichen Ausstellung als lebendige Zeithistorie studiert werden kann.
Mit dem Notaufnahmegesetz von 1950 hatte die Bundesrepublik die allen Deutschen nach dem Grundgesetz zustehende Freizügigkeit für Zuwanderer aus der SBZ/DDR eingeschränkt, vor allem um sozial- und wirtschaftspolitische Steuerungs- und Verteilungsmechanismen bei der Bewältigung der massenhaften Fluchtbewegung zu schaffen. Aber das Gesetz war auch Ausdruck einer generellen Abwehrhaltung und tief sitzender Skepsis gegenüber den zuwandernden Deutschen aus der DDR. Auch wenn die Bestimmungen wiederholt novelliert, ergänzt (Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz, 1953, BVFG) und durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts präzisiert wurden: Das Procedere der Notaufnahme blieb im Kern bis zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion am 1. Juli 1990 gültig. Zuwanderer aus der DDR mussten sich in den Notaufnahmelagern, voran in Marienfelde, intensiven Befragungen unterziehen. Sicher nicht unbegründet angesichts der Versuche des DDR-Staatssicherheitsdienstes, Agenten in den Westen einzuschleusen. Und doch lässt einen bei der Lektüre des Buchs von Elke Kimmel die Frage nach der historischen und moralischen Legitimität einer solchen Kontrolle von Deutschen durch Deutsche nicht los. Kritisch überprüften die Anhörungskommissionen insbesondere die Motivation zum Verlassen der DDR, wobei sich rasch das Idealbild eines "politischen Flüchtlings" herausbildete, während wirtschaftliche oder individuelle Gründe für die Aufnahme oft nicht reichten.
Die kleine Studie hat ihren Schwerpunkt genau in dieser Fragestellung: War es für den Einzelnen zumutbar, in der DDR auszuharren? Jakob Kaiser, der erste Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen, forderte in häufigen Appellen, in der DDR zu bleiben. Nur wer "zwingende Gründe", gar "Gefahr für Leib und Leben" oder die "persönliche Freiheit" belegen konnte, erhielt die anfangs nicht selten verweigerte Notaufnahme. Indes hält sich das Buch nach einer konzisen Darlegung der rechtlichen Aspekte nicht lange beim Notaufnahmeverfahren auf, sondern macht auf die mit ihm verbundene Wahrnehmung der ostdeutschen Landsleute aufmerksam. In drei Fallstudien geht es um die Anerkennung als Sowjetzonenflüchtling nach dem BVFG von 1953, welches gegenüber der "Notaufnahme" zusätzliche Integrationsleistungen eröffnete, um die - vor allem an der Situation der "Illegalen", also im Notaufnahmeverfahren Abgewiesenen, festgemachte - Wahrnehmung der Flüchtlinge im Westen, die zwischen "Vorurteil und Mitgefühl" schwankte, und schließlich um die jugendlichen Zuwanderer, denen im Westen besondere "Fürsorge" galt. Alle Kapitel basieren auf Quellenbeständen des Marienfelder Lagers, die freilich zumeist den Weg der Flüchtlinge nach Verlassen des Lagers widerspiegeln. Die Auseinandersetzungen um die Anträge auf Erteilung eines BVFG-Ausweises als Sowjetzonenflüchtling zogen sich oft Jahre hin und beschäftigten die Behörden.
Elke Kimmels eher illustrative als systematische Analyse der Widerspruchsakten schafft bewegende Einblicke in deutsche Wirklichkeiten der Nachkriegszeit, etwa die von beiden Seiten kritisch beäugten Grenzgänger in Berlin vor dem Mauerbau oder die Gewissensnöte von Grenzsoldaten. Gut herausgearbeitet wird, wie sich mit Fortschreiten der Teilung und vor allem nach dem 13. August 1961 die Einstellung der Westbehörden gegenüber den DDR-Flüchtlingen wandelte und einer großzügigeren Anerkennungspraxis Raum gab. Dieser Stimmungswandel galt auch für die Medien, die in den fünfziger Jahren manche Flüchtlingsgruppen noch hart aburteilten, so besonders die als 'arbeitsscheue Asoziale' gebrandmarkten Illegalen. Ähnliche Skepsis ob ihrer Prägung durch die sozialistische Ideologie galt den jugendlichen Zuwanderern, die aber eine privilegierte Aufnahmesituation hatten und mit dem Ehrgeiz der Jugendsozialfürsorge für den Westen "gerüstet" wurden, oft eher zu ihrem Unwillen.
Kimmels Studien bestätigen, erweitern und variieren bereits bekannte Befunde zur gesellschaftlichen Integration und politischen Perzeption von Flüchtlingen in Westdeutschland. Trotz reicher Quellen- und Literaturbelege ist das handliche Buch gewiss weniger als genuiner Forschungsbeitrag und mehr als fundierte Vertiefung eines Besuchs der Marienfelder Gedenkstätte gedacht. Dies leistet das liebevoll mit guten Fotos und farbig abgebildeten Dokumenten ausgestattete, präzis und lebendig geschriebene Buch hervorragend.
Eines der faksimilierten Briefdokumente ist das orthografisch unsichere Entschuldigungsschreiben einer jungen Frau, die von Marienfelde zurück in die DDR gegangen ist: Gar nicht einmal enttäuscht von der von vielen Rückwanderern beklagten Kälte im Westen, sondern einfach, weil sich die eigenen Familiennöte "geklärt hatten", ein schöner Beleg der bei aller Politisierung oft ganz individuellen Geschichte der deutsch-deutschen Migration.
Elke Kimmel: "... war ihm nicht zuzumuten, länger in der SBZ zu bleiben". DDR-Flüchtlinge im Notaufnahmelager Marienfelde, Berlin: Metropol 2009, 116 S., ISBN 978-3-940938-36-7, EUR 14,00
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