Die Erforschung kleinerer bayerischer Städte in Weimarer Republik und NS-Zeit weist trotz des nachhaltigen Aufschwungs regionaler Zeitgeschichtsforschung noch immer bemerkenswerte Leerstellen auf. Fallweise sind die Ursachen hierfür wohl auch Ausfluss eines etikettenhaft eingeschränkten Selbstbilds: Nur rund 9000 Einwohner - davon rund 1500 Soldaten - zählte das kleine Neuburg an der Donau vor 1914; die ehemalige Residenzstadt eines wittelsbachischen Teilherzogtums hatte im 19. Jahrhundert einen Prozess der "Fundamentalprovinzialisierung" durchlaufen, der bislang in- und außerhalb der renaissanceverliebten "Ottheinrichstadt" aber ebenso wenig Interesse fand wie die ältere städtische Zeitgeschichte. [1]
Mit dem vorliegenden, über 500 Seiten starken Band - Sammelschrift mit 14 Aufsätzen und Ausstellungskatalog in einem - haben die Ausstellungsmacher und Herausgeber der zukünftigen lokalen Geschichtsarbeit jetzt aber neue Wege gewiesen; immerhin knapp 5000 Besucher, darunter viele Schulklassen, wollten sich jedenfalls im vergangenen Jahr auch einmal ihrer jüngeren Heimatgeschichte versichern. [2] Neben Studierenden der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt trugen Stadtarchiv und Historischer Verein die Hauptlast des aufwendigen Projekts, das der Neuburger Stadtrat und der Landkreis Neuburg-Schrobenhausen nachdrücklich unterstützten. In Stadt- und Schlossmuseum wurde dabei ein Panorama vielfältiger lebensweltlicher "Umbrüche" (so der Ausstellungstitel) entfaltet, deren gegenständliche Vergegenwärtigung nicht zuletzt viele Leihgaben aus Stadt und Umland ermöglichten - ein erfreuliches Zeichen der Aktivierung regionalen Geschichtsbewusstseins. Weit bis in die 1950er Jahre hinein und damit über die selbst gesetzte Grenze der als einschneidend erlebten Währungsreform 1948 hinausgehend wurde die Geschichte regionaler Unternehmen, der Parteien und ihrer Protagonisten, aber auch der Wandel alltagsbestimmender kultureller Praktiken wie Mode, Hygiene oder Wohlfahrtspflege in Szene gesetzt. [3]
Der Katalogteil kann und will allerdings nicht verbergen, was die Herausgeber der durchgehend quellengesättigten und lokalgeschichtlich allenthalben Neuland betretenden Aufsätze einleitend bilanzieren: "Gerade im Bereich der Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte fehlen für zahlreiche Bereiche fundierte Darstellungen, so etwa zur Entwicklung einzelner Unternehmen, zum Wirken der Kirchen oder der Vereine in Neuburg, über die Schulen, die Struktur und Mentalität des Bürgertums oder das Alltagsleben." (6) Einen Grund hierfür sieht der Verfasser einer hochinformativen Studie über die Neu- bzw. Wiederanfänge der Neuburger Kommunalpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg (Markus Seemann) nicht nur in der vergleichsweise schlechten lokalen Quellenlage [4], sondern auch im bisherigen Umgang mit der Geschichte des 'Dritten Reichs' vor Ort: "Ebenso wenig fand (bis zur Gegenwart) im öffentlichen Diskurs eine Auseinandersetzung mit dieser Zeit statt." (301, Anmerkung 170) Eine an Bernhard Gottos vorbildliche Untersuchung über die Augsburger Kommunalverwaltung angelehnte Vergleichsstudie ist für Neuburg in absehbarer Zukunft nicht zu erwarten - obwohl mit dem ersten Bürgermeister Anton Mündler auch der stellvertretende Leiter des Gaues Schwaben (seit 1942; 1933-45 Gauinspektor) vor Ort präsent war und sich somit die Frage nach dem Grad der personellen Durchdringung der kommunalen Verwaltungsebene in einer besonders interessanten Variante - nicht zuletzt im Hinblick auf noch wenig durchleuchtete Nachkriegskarrieren - stellt. [5]
Umso höher sind daher die drei rechercheaufwendigen Beiträge über die NS-Zeit (über die Verfolgung der Zeugen Jehovas und den Versuch einer "deutschen Heimschule") zu veranschlagen, aus denen die facettenreiche Studie der Stadtarchivarin Barbara Zeitelhack über die Zwangsarbeitspraxis in Neuburg und Umgebung herausragt (157-188). Neben den Profiteuren vor Ort (169) bekommen auch das ethnische und soziale Profil sowie die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Zwangsarbeiter detaillierte Konturen. Im Übrigen hielten sich, so Zeitelhack resümierend, "die von den Nationalsozialisten instrumentalisierten Ressentiments gegen Ausländer [...] auch nach dem Krieg."
Vorurteilen der Einheimischen sahen sich auch die außerordentlich zahlreichen, zumeist sudetendeutschen Flüchtlinge ausgesetzt (1946 hatte Neuburg 14000 Einwohner, 4000 mehr als ein Jahr zuvor; das letzte Lager im Kreis wurde erst 1953 aufgelöst): So schlug 1951 Neuburgs Zweiter Bürgermeister Clemens Appel vor, dass "das verfluchte Flüchtlingspack vergast werden müßte", "dös san lauter Banditen und Zigeuner", ließ er verlauten (vgl. den Beitrag von Daniel Schönwald, 264f.). Die Wirtschaftliche Aufbau-Vereinigung (WAV) errang in Neuburg eines ihrer besten Ergebnisse bayernweit und der Neuburger Kreisverband des Blocks der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) hatte im ganzen Land die meisten Mitglieder - kein Wunder, dass sein Landesvorsitzende Theodor Oberländer, der der Neuburger Ortsgruppe angehörte, bei der Landtagswahl hier kandidierte. Schönwalds penibel recherchierte Befunde vertragen sich eigentlich nicht mit der abschließend auch von ihm bemühten Zwecklegende von der angeblich gelungenen Flüchtlingsintegration (280) - vielmehr war auch Neuburg für die Ankommenden, wie Andreas Kossert jüngst allgemeingültig konstatierte, jahrelang eine "kalte Heimat." [6]
Den eher unausgesprochenen zentralen Fluchtpunkt der vier Beiträge über Vereine und Parteien in der Weimarer Republik bildet die in den Akten der Militärregierung formulierte und nach wie vor erklärungsbedürftige Tatsache, dass der stark katholisch geprägte "Kreis Neuburg zu den ehemaligen Nazihochburgen gehörte." (Märzwahl 1933: 56,1 Prozent NSDAP-Stimmen auf dem Land, 46,8 Prozent in der Stadt, fast 14 Prozent vor der BVP, schwabenweit betrachtet ein weit überdurchschnittliches NSDAP-Ergebnis) (301; vgl. 143). Leider konzentriert sich vor allem der Beitrag über das katholisch-konservative Spektrum auf die frühe Weimarer Zeit - den Weg zur "Machtergreifung" 1930-1933/34 in der kleingewerblich-mittelständisch und bildungsbürgerlich dominierten Kleinstadt, die unter dem Verlust ihrer 1500 Mann starken Garnison schwer litt, gilt es nach wie vor nachzuzeichnen.
Gesichert ist, dass sich die lokal besonders weit rechts stehende, letztlich republikfeindliche BVP vor allem auf dem Land ("Notstandsgebiet" Donaumoos) einer außerordentlich starken, ebenso antiklerikal wie antisemitisch auftretenden Bauernbund-Konkurrenz zu erwehren hatte (zur Rätezeit im Bezirk annähernd 40 Prozent Wählerstimmen), die sich zunächst betont revolutionär gab und 1924 in der Stadt mit DDP und NSDAP [!] eine kommunalpolitische "Freie Wählervereinigung" einging. Im Pressewesen ist ähnliches Changieren zu vermerken; bauernbündlerisch-liberale BVP-Alternativen gerierten sich ab Anfang 1932 offen nationalsozialistisch. Hierfür symptomatisch und vorab eine eingehendere biografische Studie wert wäre der lokale Bauernbundführer und Gutsbesitzer Wilhelm Freiherr von Weveld, der im Dezember 1930 fanalhaft zur NSDAP übertrat (vgl. den Beitrag von Paul Hoser, 124, 137ff.). War ein kulturkämpferisch induzierter vulgärliberaler Antiklerikalismus das Ferment lokaler Milieu- und Gegenmilieubildung seit dem späten Kaiserreich? [7] Mit den vorliegenden materialreichen Einzelstudien wäre ein Teil des Wegs frei für eine regional vergleichende Tiefensondierung politischer Mentalitäten [8] in einer hinsichtlich ihrer politischen Kultur offenbar durchaus eigenständigen Region zwischen Schwaben, Franken und Altbayern.
Anmerkungen:
[1] Einzige jüngere Ausnahme: Markus Seemann: Innenpolitische und wirtschaftliche Problemlagen der Weimarer Zeit im Spiegel der Neuburger Geschichte der zwanziger Jahre, in: Neuburger Kollektaneenblatt (NK) 149 (2001), 21-62. Das NK 1995 befasste sich erstmals mit - vielfach militärgeschichtlichen - Teilaspekten des Kriegsendes 1945.
[2] Vgl. zur lokalen Resonanz der Ausstellung die Onlineausgabe des Donaukuriers vom 6.10.2008, http://www.donaukurier.de/lokales/schrobenhausen/4800-Gaeste-sahen-Umbrueche;art603,1950686? (28.2.2009). - Neuburg hat heute rund 30.000 Einwohner.
[3] Die vollständige, abbildungstechnisch hochwertige Dokumentation der Exponate im Katalog ist erfreulich und hilfreich; die mangelnde Lesbarkeit einiger abgebildeter Textquellen ist dabei nicht zu vermeiden.
[4] Der Rathausbrand im April 1945 ist wohl auf einen unachtsam mit Waffen hantierenden GI zurückzuführen. Die Kreisleitungsakten wurden hingegen im Hof des Marstalls sicher nicht von US-Amerikanern verbrannt und aus dem Amtsgericht sind noch in den 1960er Jahren viele Akten verschwunden. Die im Staatsarchiv Augsburg verwahrten Spruchkammerakten sind dagegen für Neuburg gut überliefert; Gespräch mit der Neuburger Stadtarchivarin Barbara Zeitelhack, 16.2.2009.
[5] Bernhard Gotto: Nationalsozialistische Kommunalpolitik. Administrative Normalität und Systemstabilisierung durch die Augsburger Stadtverwaltung 1933-1945, München 2006.
[6] Andreas Kossert: Die kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2008.
[7] Trotz konzeptioneller Schwächen bedenkenswert: Oded Heilbronner: "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Dynamit". Populäre Kultur, populärer Liberalismus und Bürgertum im ländlichen Süddeutschland von den 1860ern bis zu den 1930ern. Aus dem Hebräischen und Englischen von David Ajchenrad (=Forum Deutsche Geschichte; 13), München 2007, hier v.a. 9-14.
[8] Grundlegend Manfred Kittel: Provinz zwischen Reich und Republik. Politische Mentalitäten in Deutschland und Frankreich 1918-1933/36 (=Quellen und Forschungen zur Zeitgeschichte; Bd. 47), München 2000, hier 13-16.
Dietmar Grypa / Barbara Höglmeier / Barbara Zeitelhack (Hgg.): Umbrüche. Leben in Neuburg und Umgebung 1918 bis 1948. Ausstellung des Stadtmuseums Neuburg an der Donau vom 28. März bis 5. Oktober 2008, Neuburg / Donau: Selbstverlag 2008, 516 S., 20,00
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