Großbritannien 1789-1815: Als einziges großes Land Europas wurden die britischen Inseln nur mittelbar von der Französischen Revolution und den anschließenden Eroberungskriegen Napoleons berührt. Das hatte paradoxerweise zur Folge, dass sich dort Sympathien britischer Intellektueller für die republikanischen Freiheiten länger halten konnten als auf dem Kontinent. Während deutsche und vor allem italienische Jakobiner spätestens 1796/97, als sich die imperialistische Fratze des neuen Frankreich in all ihrer von ideologischer Überheblichkeit nur mühsam verdeckten Beutelust zeigte, von der bewunderten Revolution abwandten, bewahrten englische, schottische und irische Radikale noch einige Jahre lang ihre Bewunderung für den neuen revolutionären Leviathan, verbunden mit der Hoffnung, dieser werde ihnen gegen eine zunehmend auf Unterdrückung und Zensur setzende britische Regierung zu Hilfe kommen. Vor allem die "United Irishmen", eine aus Katholiken und Presbyterianern gemischte Freiheitsbewegung, setzten ganz auf das Beispiel des großen Nachbarlandes und erwarteten sich die Initialzündung für den geplanten Aufstand von einer französischen Invasion in Irland. Aber über einen ersten misslungenen Versuch hinaus wagte die zu Lande allseits erfolgreiche französische Republik kein neues Invasionsunternehmen, und so brach der irische Aufstand schließlich in einer chaotischen Selbstentzündung im Frühjahr 1798 in Ulster und in der Grafschaft Wexford los, um nach drei Monaten in einer blutigen Unterdrückung durch die britische Armee zu enden...
Diese Vorgänge sind dem auf England und seinen Aufstieg zur führenden Kolonial- und Industriemacht Europas fixierten Kontinentalhistoriker meist kaum bekannt. Für die irische, aber auch für die britische Selbstwahrnehmung sind sie dagegen von kapitaler Bedeutung, führten sie doch zum einen unmittelbar zur Zwangsvereinigung der britischen Inseln unter dem Parlament von Westminster und auf der anderen Seite zum Beginn einer massiven irischen Auswanderung nach Amerika, der im Laufe des 19. Jahrhunderts noch weitere Schübe folgen sollten. Das Gefühl, an der Schwelle eines gewaltigen Wandels zu stehen, dem noch gewaltigere Veränderungen folgen sollten, verbanden sich in der Selbstwahrnehmung der Briten (dieses Wort setzte sich nun allmählich durch) mit der existenziellen Bedrohung durch Napoleon und schwemmten endgültig die idyllische Selbstbezogenheit hinweg, die das "lange englische 18. Jahrhundert" gekennzeichnet hatte.
Um die britische Selbstwahrnehmung an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert geht es in dem neuen Sammelband, den der Lit-Verlag vorlegt. Er ist entstanden aus der Zusammenarbeit zwischen dem Modern History Department an der Universität Edinburgh und den Fächern Geschichte und Anglistik an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität. Da die Beiträge sich vornehmlich an ein britisches (oder mit Großbritannien befasstes) Wissenschaftspublikum richten, sind sämtliche Aufsätze konsequenterweise auf Englisch verfasst. Doch auch der deutsche Leser, der bereit ist, sich auf die anspruchsvolle Diktion der meisten Beiträge einzulassen, wird diese mit Gewinn lesen, ergeben sich doch ständig implizite Querbezüge zur Verarbeitung der Französischen Revolution und Napoleons durch die deutschen Intellektuellen in der Sattelzeit um 1800.
Ähnlich wie diese haben zahlreiche Engländer in den ersten Jahren nach 1789 die Französische Revolution bereist. Es bildete sich eine kleine englische Kolonie in Paris, deren führende Figuren Thomas Paine sowie Helen Maria Williams und Mary Wollstonecraft waren und die mit der deutschen Kolonie um Schlabrendorff und Forster eifrig kommunizierten. Über diese revolutionäre Reiseliteratur, die sog. "Travelogs" der englischen Parisfahrer, hätte man gerne noch mehr erfahren, doch wird Ulrich Broich demnächst darüber eine Studie vorlegen. Hier beschränkt er sich zusammen mit seinem schottischen Kollegen Dickinson auf die instruktive Einleitung, die dem Leser eine schnelle Orientierung verschafft, während Anton Kirchhofer in einer Studie über die Edinburgh Review in den 1790er Jahren und Eckhart Hellmuth in einem Essay über die von Pitt ausgebooteten Whigs um Charles James Fox die liberale Seite beleuchten.
Die große Gegenfigur zu diesen zunehmend in den Windschatten der Zeitläufe geratenden Alt-Liberalen war Edmund Burke, auch er ja ursprünglich ein Whig und Vorkämpfer der amerikanischen Revolution. Um seine "Reflections on the Revolution in France" entwickelte sich in England und Schottland eine regelrechte Kultliteratur. Burke beeinflusste nicht nur den jüngeren Pitt, sondern auch die erste Generation der romantischen Dichter wie Wordsworth, Coleridge, Godwin und Southey, die zu Konservativen mutierten und ihre radikalen Anfänge derart verleugneten, dass eine spätere Generation ihnen - wie im Falle von Robert Southeys Drama "Wat Tyler" von 1794 - durch die nachträgliche Veröffentlichung ihrer Jugendsünden ihre eigene Vergangenheit vorhalten zu müssen meinte. Die verschiedenen Facetten dieser konservativen Politisierung des britischen intellektuellen Lebens zeigen die Beiträge von M.O.Grenby, Gordon Pentland und Atle L. Wold auf.
Die zweite Generation der Romantiker ging zu der von der Regierung verordneten Frankophobie auf Distanz. Obwohl überzeugt von der Notwendigkeit der Eigensicherung britischer Interessen und der Bedrohung durch Napoleon, entwickelten Byron, aber auch Shelley, Keats, Leigh Hunt und Hazlitt in der Fixierung auf den großen Korsen jenes ambivalente Verhältnis zu der Portalfigur des 19. Jahrhunderts, das auch für Heinrich Heine kennzeichnend ist.
Der Sammelband schafft durch die Breite und Verschiedenartigkeit seiner Beiträge den Spagat zwischen Geschichte und Literatur, ohne dass die einzelnen Studien im selbstgenügsamen Spezialistentum verharren. Zwar blicken die Verfasser kaum über den Rand ihres jeweiligen Themas hinaus, dennoch entsteht in der Summe und im Nebeneinander der einzelnen Aufsätze ein Panorama britischer Intellektuellengeschichte an der Schwelle zur Moderne. Nur da, wo der Bogen über die Jahre 1789-1815 hinaus geschlagen werden soll - wie etwa bei der Untersuchung von Marianne Czisnik über die Nelson-Monumente der 1850er Jahre in London und Norwich -, fehlt der notwendige historische Konnex. Ist der Nelson-Kult der Jahrhundertmitte noch ein Reflex der von den Zeitgenossen miterlebten 'Rettung Britannias' von französischer Unterdrückung, oder gehorcht die im Generationsabstand erfolgende Verherrlichung des Admirals ganz anderen Zusammenhängen und Motiven (Man vergleiche etwa die Rückkehr des Leichnams Napoleons im Jahre 1840)?
In einem anderen Falle allerdings überzeugt die bis in die Gegenwart fortgeführte Betrachtung der Rezeption eines historischen Ereignisses. Der irische Aufstand von 1798 ist auch 200 Jahre später immer noch nicht wirklich in der Historie angekommen, wie T.H. Dickinson am Beispiel eines 1998 entstandenen Historikerurteils deutlich macht, das die "United Irishmen" von 1798 zu Vorkämpfern einer modernen säkularen Republik verzeichnet. "This may be worthy politics, but it is bad history", urteilt der Edinburgher Emeritus, und merkt an: "As historians we need to hear those in the past 'speak', but we must be careful not to place our words and our contemporary concerns into the mouths of those who lived and died more than two hundred years ago". Worte, denen nichts hinzuzufügen ist.
Ulrich Broich / H.T. Dickinson / Eckhart Hellmuth u.a. (eds.): Reactions to Revolutions. The 1790's and their Aftermath (= Kulturgeschichtliche Perspektiven; Bd. 2), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2007, 400 S., ISBN 978-3-8258-7427-8, EUR 24,90
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