Das Experiment ist gelungen. Eine Gruppe Berliner Historikerinnen und Historiker aus Heinz Schillings Teilprojekten am dortigen Sonderforschungsbereich 640 'Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel' hat sich den Konsequenzen verbundforschungsförmiger Gruppenarbeit gestellt und ein innovatives, dreistufiges Darstellungsformat entwickelt. Sie wendet es an, um eines der Leitparadigmen der Frühneuzeitforschung, die 'Säkularisierung', auf den Prüfstand zu stellen.
Der erste, gemeinsam verfasste Teil des Buches referiert die Geschichte der Säkularisierungsthese und ihrer Adaption in der Forschung. Zwar hat sich die Frische, mit der die Säkularisierungsdebatte ab den 1960er Jahren geführt wurde, im Angesicht einer weltweiten Renaissance des Religiösen verflüchtigt - für (Religions-)Soziologen umweht den Säkularisierungsbegriff bereits "der abgestandene Duft der Moderne" (22). Geschichtswissenschaftlich hat er sich jedoch nicht in gleichem Maße erledigt: Die geschichtsphilosophisch geführte Säkularisierungsdebatte richtete sich ohnehin weniger auf das Verschwinden als auf die Transformation religiöser Begriffe und Konzepte. Sie kann zwar der Aporie der Frage nicht entkommen, was sich da eigentlich verwandelt und was im Kern dasselbe bleibt. Doch besitzt das Transformationsmodell den Charme des Decouvrierenden, der es für postmoderne Kulturtheorien attraktiv hält und für die Alltagsheuristik historisch-kulturwissenschaftlicher Fächer nützlich macht. Säkularisierungskonzepte sind deshalb nicht nur von der Germanistik, Wissenschafts- und Kunstgeschichte aufgegriffen worden, sondern auch weiterhin Bestandteil der Deutung des Humanismus, der Reformation, des Pietismus und der Aufklärung. Das Autorenteam referiert den Stand der Debatten und die Probleme des Konzepts kompetent, klar und präzise, sodass dieser Teil des Buches zur Pflichtlektüre für jedermann erklärt werden muss, der sich in Zukunft mit Säkularisierung beschäftigt. Dies auch deshalb, weil die Probleme der 'Großthese' Säkularisierung deutlich benannt werden, wie z.B. das ihrer mangelhaften empirischen Belegbarkeit.
Der zweite Teil des Buches zieht daraus die Konsequenz und überführt die Frage der Säkularisierung in den Plural empirisch überschau- und kontrollierbare Einzelbetrachtungen, sogenannter 'Miniaturen'. Jeder Autor testet anhand eines Aspektes seines eigenen Arbeitsgebietes die Operationalisierbarkeit des Säkularisierungskonzeptes. Dies geschieht mit Hilfe des Begriffs der 'Repräsentationen'. Repräsentationen sind im Sinne des Berliner Sonderforschungsbereiches Deutungsmuster, mittels derer Gesellschaften "Modelle von sich und ihrer Umwelt entwerfen" (19). Der Begriff hilft, die Aufmerksamkeit für die dazu notwendigen Aushandlungsprozesse sowie für die medialen und sozialen Voraussetzungen hoch zu halten, schiebt sich jedoch mitunter recht sperrig in den Text.
Ruth Schillings erste Miniatur untersucht Berichte über die Krönung der französischen Könige Heinrich IV., Ludwig XIII. und Ludwig XIV. auf den Anteil religiöser Argumentationen und verdeutlicht, wie einzelne Elemente der französischen Krönungs- und Salbungszeremonie im Wandel der Rahmenbedingung erklärungsbedürftig oder disponibel wurden.
Heike Bocks Beitrag wendet sich dem Umgang mit glaubensflüchtigen Konvertiten im frühneuzeitlichen Zürich zu und zeigt, wie sich die diesbezüglichen Ausgaben der Stadt zwischen 1712 und 1798 entwickelten. Sie nahmen nach der Mitte des 18. Jahrhunderts stark ab, aber lässt sich damit auf die Säkularisierung der 'Repräsentationen von Gemeinwesen' rückschließen? Korreliert das Geld mit dem Denken? Bock erkennt das Problem, zieht interessante Quellen und Überlegungen hinzu, unterwirft dann aber ihre Beobachtung, dass konfessionelle Bezüge im Diskurs ab- und ökonomische langfristig zunahmen, doch wieder einem eher groben Säkularisierungskonzept, in dem das Staatliche eben das Kirchliche verdrängt.
Vera Isaiasz thematisiert die Deutungen protestantischer Kirchenräume, also eine ganz praktische Seite der Frage: Was ist Kirche? Die Sakralität des Gemeindegottesdienstes stützte sich für Luther nicht auf den geweihten Raum, sondern situativ auf das Zusammentreten der Gemeinde. Dennoch setzten sich Tendenzen zur Sakralisierung des Gebäudes (z.B. Kirchweihen) durch, die letztlich einen Zug zur Säkularisierung in sich trugen. Um so sakraler der Kirchenraum definiert wurde, desto mehr mussten andere Funktionen ausgewiesen werden, was letztlich der funktionalen Aufwertung alternativer Orte des gemeindlichen Lebens (Rathaus, Wirtshaus, Markt etc.) diente.
Die drei folgenden Beiträge untersuchen die Grenze zwischen religiösen und naturkundlichen Geltungs- und Deutungsansprüchen. Stefan Ehrenpreis widmet sich katechetischen und naturkundlichen Lehrbüchern, insbesondere einem Hallenser Naturkundebuch von 1720.[1] Mit seiner Hilfe kann er zeigen, wie man sich im schulischen Unterrichtsalltag der Naturkunde einerseits zuwendete, aber andererseits versuchte, religöse Deutungsdomänen zu bewahren.
In Heilbädern ist Entspannung Programm: Badeordnungen schon des 16. und 17. Jahrhunderts verboten konfessionellen Streit und verwiesen auf die Möglichkeit des Besuches der Gottesdienste verschiedener Konfessionen (292 f.). Ute Lotz-Heumann gelingt es, die Deutungskonkurrenz zwischen balneologisch-naturwissenschaftlichen und religiösen Erklärungen der Heilkraft des Wassers ebenso präzise zu rekonstruieren wie Szenarien ihres unabgestimmten Nebeneinanders auszuweisen.
Matthias Pohligs abschließende Studie richtet sich auf den Weltende-Diskurs um 1700 und dort auf Thomas Burnetts These von einem endzeitlichen Weltenbrand, die dieser biblisch und naturwissenschaftlich begründet hatte. In den zeitgenössischen Debatten kam es dabei zu einer partiellen Entkoppelung naturwissenschaftlicher und religiöser Diskurse. Man kann diese Entkoppelung selbst schon als Form von Säkularisierung deuten (369), aber auch zum Anlass für eine generelle Infragestellung der analytischen Tauglichkeit des Säkularisierungsbegriffes nehmen.
Während der Säkularisierungsbegriff nämlich das Entweder-Oder eines Nullsummenmodells impliziert, konstatieren alle Beiträger letztlich ein deutliches Sowohl-Als-Auch. Es gab eben einerseits Dramatisierungen des Unterschieds religiöser und säkularer Deutungen und andererseits stillschweigende Duldungs- und Überblendungspraktiken. Weil es so schwer fällt, letztere selbst schon als 'Säkularisierung' zu beschreiben, (ohne in die Verlustperspektive der Kirchen zu verfallen), ist der Säkularisierungsbegriff dort analytisch stumpf, wo es am meisten zu entdecken gibt. Es sind gerade die in den Miniaturen herausgearbeiteten Differenzierungen, die zeigen, dass sein Weiterleben en miniature von begrenztem Nutzen ist. Auch wenn die Autoren im dritten Teil, dem wieder gemeinsam verfassten Resümee, vor der letzten Konsequenz zurückschrecken, die Säkularisierung selbst zu einer vergangenen 'Repräsentation' des Historikers zu erklären: Der Band erschließt dem Leser den Säkularisierungsbegriff auf höchstem Niveau sowie in der ganzen Tiefe und Problematik seines Gebrauchs. Er nimmt die Herausforderung eines präziseren historischen Designs an, das die Funktionen von Begriffen (verbundforschungsleitende, relevanzpostulierende, heuristische, deskriptive usw.) klar zu benennen hat, und setzt ein kräftiges Zeichen gegen die Tendenz, geschichtswissenschaftliche Leitinterpretamente (siehe 'Absolutismus') post mortem erst richtig erblühen zu lassen, dann nämlich, wenn man ihnen den eigentlichen Ernst ihres Gebrauchs abgesprochen und eine neue Verfügbarkeit ermöglicht hat.
Anmerkung:
[1] Johann Georg Hoffmann: Kurtze Fragen von den Natürlichen Dingen oder Geschöpffen und Wercken Gottes, Halle 1720.
Matthias Pohlig / Ute Lotz-Heumann / Vera Isaiasz / Ruth Schilling / Heike Bock / Stefan Ehrenpreis: Säkularisierungen in der Frühen Neuzeit. Methodische Probleme und empirische Fallstudien (= Zeitschrift für Historische Forschung; Beiheft 41), Berlin: Duncker & Humblot 2008, 411 S., ISBN 978-3-428-12943-0, EUR 58,00
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