Was hat Lengnau im Aargauer Surbtal mit Warschau und Lemberg gemeinsam? Im Mittelpunkt des Sammelbandes, der aus dem von Heiko Haumann geleiteten Basler Forschungsprojekt "Vertraut und fremd zugleich. Juden in interkulturellen Beziehungen" (2001-2004) hervorgegangen ist, steht nicht der Vergleich, sondern vielmehr das Nebeneinander verschiedener Formen jüdisch-christlicher Nachbarschaften in unterschiedlichen geografischen und zeitlichen Kontexten. Die inhaltliche Klammer der drei zwischen 50 und 70 Seiten umfassenden Beiträge stellt der von der amerikanischen Kulturwissenschaftlerin Mary Louise Pratt übernommene Begriff der "Kontaktzonen" (contact zones) dar, den die Herausgeberin Alexandra Binnenkade in ihrer Einleitung skizziert. Demnach sind unter "Kontaktzonen" soziale Räume zu verstehen, in denen Kulturen unter ungleichen Machtverhältnissen aufeinander treffen. Der Begriff soll helfen, nicht nur die durch den Kulturenkontakt (re-)produzierten Asymmetrien, sondern auch die "Kopräsenz, Interaktionen, sich überschneidende[n] Auffassungen und Praktiken" (2) zu untersuchen. Ihm liegt die Erkenntnis zugrunde, dass Konflikte in Beziehungen stattfinden und nicht deren Abbruch bedeuten. Binnenkade versteht die "Kontaktzonen" zugleich als geeignete Alternative zu dem ebenfalls aus den postkolonialen Studien kommenden Konzept der kulturellen "Hybridität". Zu Recht verweist sie auf die problematische Begriffsgeschichte von "hybrid" und die damit verbundene Vorstellung von der Vermischung zweier oder mehrerer homogener Kulturen. Dass auch der Begriff der "Kontaktzonen" offenbar auf der Vorstellung "kultureller Ausschlussräume" (17) und damit auf der Annahme relativ homogener Entitäten aufbaut, schiebt Binnenkade wenig später in ihre Argumentation ein, ohne dies näher zu erläutern.
Im ersten Beitrag untersucht Ekaterina Emeliantseva die "Entstehung von interkulturellen Zwischenräumen" (31) am Beispiel der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach Warschau eingewanderten Frankisten und ihren Beziehungen zur nichtjüdischen Umwelt. Ihre Untersuchung stützt sich in erster Linie auf antifrankistische Pamphlete aus der Zeit des Vierjährigen Sejms (1788-1792). Die anonym gebliebenen Autoren warfen den Anhängern der messianischen Bewegung Jakob Franks vor, "unechte" Stadtbürger und Christen zu sein, die sich sozial und kulturell ausgrenzten. Anhand sozialhistorischer und topografischer Analysen gelingt es Emeliantseva nachzuweisen, dass die Frankisten in die städtische Gesellschaft Warschaus integriert waren. Ihre Lebensweise, die neben frankistischen auch jüdische, katholische, bürgerliche und adelige Elemente vereinte, stellte jedoch die bisherigen Integrationswege infrage. Die Pamphlete sind deshalb als Reaktion auf die Umbruchzeit Ende des 18. Jahrhunderts zu verstehen, die die soziale Wirklichkeit der Frankisten und anderer Warschauer nur bedingt widerspiegeln.
In der zweiten Studie analysiert Alexandra Binnenkade "jüdisch-christliche Kontaktzonen" in Lengnau und Endingen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diese im Aargauer Surbtal gelegenen Ortschaften waren die beiden einzigen, die Jüdinnen und Juden in der Schweiz zwischen 1776 und 1879 das Niederlassungsrecht gewährten. Binnenkade rekonstruiert zunächst konkrete Orte und Formen der "Kontaktnahme" im Dorf und analysiert sodann judenfeindliche Kampagnen wie die des Aargauer "Mannlisturm", der sich gegen die Verleihung des Orts- und Kantonsbürgerrechts an Juden aussprach, sowie die sich daran anschließenden jüdischen und nichtjüdischen Reaktionen. Sie unterstreicht, dass der von den Emanzipationsgegnern immer wieder formulierte konfessionelle Gegensatz in der dörflichen Lebenswirklichkeit längst an Bedeutung verloren hatte und die Emanzipation der Juden trotz dieser Anfeindungen langfristig nicht aufgehalten werden konnte.
Svjatoslav Pacholkiv widmet sich in der dritten Studie den jüdisch-polnisch-ukrainischen Beziehungen in Lemberg unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg. Sein Hauptaugenmerk gilt hierbei der Beschreibung des Pogroms vom November 1918, der während des polnisch-ukrainischen Krieges in der galizischen Stadt ausbrach. Den in Gewalt umschlagenden Konflikt zwischen Ukrainern, Polen und Juden deutet Pacholkiv in erster Linie als eine Folge des Zusammenbruchs der Habsburger Monarchie und der zunehmenden Radikalisierung des polnischen Nationalismus. Polnische Lemberger sahen in den Juden "Verräter und Feinde", da sie sich im polnisch-ukrainischen Krieg neutral verhielten. Er zeigt, dass auch nach dem Pogrom, dem über 70 Juden zum Opfer fielen, weitere Übergriffe auf Juden beispielsweise durch die neu gegründete polnisch-patriotische Bürgerwehr stattfanden. Pacholkiv resümiert, dass sich die Beziehungen zwischen der jüdischen und der polnischen Bevölkerung Lembergs erst in den 1920er Jahren allmählich wieder beruhigten.
So interessant und vielfältig die vorliegenden Studien sind, stellt sich abschließend dennoch die Frage nach dem Sinn der Publikationsform. Die drei Aufsätze lesen sich wie überlange 'Previews' auf die ohnehin in Zukunft anstehende Veröffentlichung zweier Dissertationen (Emeliantseva, Binnenkade) und einer Habilitation (Pacholkiv). Angesichts des zum Teil überstrapazierten Begriffs der "Kontaktzonen" wäre es zudem hilfreicher gewesen, ihn im Zusammenhang mit vergleichbaren und ebenso aktuellen Konzepten wie die der meeting places (Massey), der Zwischen- oder Grenzräume (u. a. Bhaba, Pries, Paulmann) zu diskutieren. Wahrscheinlich würde man so auf ein umfassenderes Konzept kommen, mit dessen Hilfe man die Räume verdichteter interkultureller Kommunikation beschreiben und analysieren kann, ohne in die Falle kultureller Ausschlussräume zu geraten.
Alexandra Binnenkade / Ekaterina Emeliantseva / Svjatoslav Pacholkiv (Hgg.): Vertraut und fremd zugleich. Jüdisch-christliche Nachbarschaften in Warschau - Lengnau - Lemberg. Mit einem Geleitwort von Heiko Haumann (= Jüdische Moderne; Bd. 8), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2009, 216 S., ISBN 978-3-412-20177-7, EUR 29,90
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