sehepunkte 10 (2010), Nr. 1

Hamed Abdel-Samad: Mein Abschied vom Himmel

Eine neuartige Gattung der historischen Literatur macht von sich Reden. Kritiker mögen ergründen, wie diese globale Reise- und Identitätsgeschichte einzustufen wäre. Aber sie ist als autobiographische Historie der Bindestrich-Identitäten beachtlich. Aufgewachsen in Ägypten, lebt Hamed Abdel-Samad auch in Deutschland und Japan. Dabei ringt er mit einer Zerstörung, die er kaum zu beherrschen lernt und die ihn oft an den Abgrund treibt.

Der Leser wird hin und her gerissen. Alle tragen Verletzungen mit sich herum. Aber nicht jeder lebt sie so riskant wie der Autor aus. Der 1972 am Nil Geborene porträtiert sich als hemmungslosen Egomanen, der allen dartut, wie schlimm es um ihn steht. Es verwundert daher nicht, dass er sein Verhältnis zur Wahlheimat "Zweckehe" nennt. Aber wer zwingt ihn, dort zu leben und die Leute so zu belasten? Missbrauch in der Kindheit, in Mittelost verbogen worden zu sein, Hassliebe zu Ländern, in die er entflieht, oder alles zusammen.

Erlaubt hat es eine neue globale Mobilität vor dem Millenium. Präsident Anwar as-Sadat nahm sie vorweg als er das "sozialistisch versperrte" Land in den 70er Jahren dem Markt geöffnet hat. Seine Liberalisierung der Politik erlaubte allen, von Muslimbrüdern bis zu Linken, das Leben mit zu gestalten. Abdel-Samad zeigt auf, wie ägyptische Migranten in Saudi-Arabien nach ihrer Heimkehr den intoleranten wahhabitischen Islam einführten. Im Ergebnis wurde auch der Mord am "Pharao Sadat" in Kairo ein dunkler Punkt für Abdel-Samad, der abwechselnd mal für die Muslimbrüder oder mal für die Marxisten agitiert hat.

Empfehlenswert sind die interkulturellen Einsichten über das Leben eines Migranten auf drei Kontinenten, der sich für Deutschland als vorläufiges Lebenszentrum festgelegt hat (ihm fehlen Amerika und Indien; Kanada ist wohl zu kalt). Er zeigt, wie geschickt nicht wenige Muslime im Identitätspoker ihre Karten gegenüber deutschen Ämtern ausspielen, um Vergünstigungen zu ergattern. Ihr Trumpf: sie wissen, was Offizielle so hören wollen oder was halt im Dialogwesen läuft. Insgeheim, stellt der Autor dar, verachten und hassen sie diese Gesellschaft der gutmenschlichen Ungläubigen, die ihnen oft noch ahnungslos Türen öffnet. Ihr Islamdünkel: unsere Religion ist die richtige, die andere wäre korrupt.

Laut Abdel-Samad wissen die neuen Bürger genau, wie sie andere an die Wand spielen. Ja, wie sie ihnen ein schlechtes Gewissen einreden, um Vorteile zu erhalten. Das ergründet er auch bei Arabern, Juden und Deutschen. Dabei stellt er sich eine Kernfrage wie viele Ostdeutsche auch. Denn nach dem Mauerfall ging durch ihr neues Erleben ein Bild nach dem anderen aus der Kindheit in die Brüche: wie viel von dem, was ich über die Welt zu wissen glaubte, ist falsch, wie sehr ist mein Wissen durch meine Sozialisation verseucht?

Abdel-Samad berührt dabei die Lebenstaktik, Vorurteile und Begriffe. Stieß er im Alltag auf Probleme, so schwang er gegen andere die Keule des Rassismus und Holocausts: ihre Vorfahren hätten das Wirtschaftswunder, aber auch den Massenmord organisiert. Da man ihm antrug, doch selbst das Konzentrationslager Dachau zu besuchen, behauptete er: Nur Deutsche müssten sich an das Leiden der Juden erinnern, weil sie es verschuldet hätten. Was habe er damit zu tun? Seine Familie hätte ganz im Gegenteil Juden nicht als Opfer, sondern Täter erlebt. Indes Deutsche nie angemessen für ihre Verbrechen bestraft worden wären, hätten Palästinenser und Araber ihnen die Strafe abgenommen. Warum hätten die Juden nicht Bayern als Staatsgebiet erhalten? Er brauche keine deutschen Erinnerungen.

Leid ist unteilbar. Abdel-Samad stellt Stereotypen vor: Araber hätten mit dem Holocaust nichts zu tun. Sie wären Opfer der Opfer. Dazu hier nur dies: Amin al-Husaini, Palästinas Großmufti, und Rashid Ali al-Kailani, Expremier Iraks, ersuchten die Nationalsozialisten um Hilfe, Arabien von Briten und Franzosen zu befreien und das jüdische Heim in Palästina zu beseitigen. Das sagte Hitler beiden zu. Er erklärte ihnen, die Juden dort zu vernichten. Er plante in Berlin einen Arabischen Führerrat, dem Ägyptens König Faruq beitreten sollte. Rashid Ali al-Kailani bat, ein Konzentrationslager zu sehen, um zu prüfen, ob es im Irak realisierbar wäre. Vier seiner Araber besichtigten Juden im KZ Sachsenhausen. Berlin, Rom und Vichy stellten viele Araber gegen Juden. Für sie spionierte der junge as-Sadat.

Im französischen Nordafrika, von wo aus etwa 5.000 Juden in Vernichtungslager Europas kamen, sowie von Libyen, Ägypten über Palästina bis Irak, war fast jede jüdische Familie betroffen. Der Großmufti rief zum Jihad gegen die Alliierten auf. Nicht nur er vermischte Islam und Rassismus zum Islamismus. Sein und des Irakers Anteil am Holocaust lag auch darin, Berlin und Rom dahin zu bewegen, keine jüdische Emigration mehr zu erlauben.

Wenn keine Juden mehr aus Europa durften, wie es bis Ende 1941 noch legal war, was nun? Amin al-Husaini und Rashid Ali stoppten die Emigration. Dann ging die Wannsee-Konferenz los. Als Komplize [1] half der Großmufti den Nationalsozialisten bis 1945 auch, Muslime in die Wehrmacht und SS-Truppen zu rekrutieren. Diese leisteten gegen Juden Ungarns und Rumäniens Beihilfe. Hitler setzte auf regionale Helfer. Die Hauptverantwortung lag bei den Nationalsozialisten. Indes trafen sie überall in den Regionen auf willige Vollstrecker, siehe Tunis. Müssen sich also etwa nur Deutsche an das Leiden der Juden erinnern, haben nur sie es verschuldet oder hatten Araber auch damit zu tun?

Der Autor meinte, Israel zu hassen, da es seinen Vater im Krieg 1967 gebrochen habe. Ja, eigentlich solle er auch Deutschland hassen, Millionen unschuldiger Juden ermordet und damit Israels Bildung provoziert zu haben. Aber: die nationale jüdische Wiedergeburt in Palästina kulminierte im Ersten Weltkrieg. Die osmanische Regierung bejahte sie wie der König Syriens und das Völkerbundsmandat. Israel entstand nicht als Resultat des Zweiten Weltkriegs, sondern des Ersten Weltkriegs. Die Chance eines arabischen Staats Palästina verwarf des Großmuftis Kurs: Alles oder nichts. Er schob seit 1946 viele Nationalsozialisten in die Apparate für Agitation, Militär und Sicherheit der Nachbarn Israels. Am Nil sollen 1965 über 3.000 Exnazis gewirkt haben. Daher deutet die Nummer drei in Kairos Ministerium für Verteidigung mit dem Vornamen "Hitler", den der Autor traf, Langzeitwirkungen an. Oft gingen Nationalsozialisten Ende der 60er Jahre in Rente. Dann kamen Experten des Ostblocks auf.

Andere Stereotype sind: Araber können keine Antisemiten seien, weil sie selber Semiten wären. Indes gibt es weder Semiten noch ägyptisches Blut oder jüdische Gene. Wer diese Worte oder "Kommandos" und "Sechzehnteljude" wieder benutzt, verkennt die Historie. Abdel-Samad verweist auf ägyptische Juden, von denen er in der Schule nie etwas gehört habe. Der Großmufti rief 1937 Muslime auf, ihre Länder "judenfrei" zu machen. Er erlebte es noch: 30 Jahre später war es bis auf Ausnahmen, so Marokko, erledigt. Der Autor sagt daher Juden seien für ihn nur die zionistischen Israelis gewesen, die Palästina überfielen und gegen Ägypten mehrere Kriege gewonnen hatten. Er berichtet vom Treffen mit dem ersten Juden, der gar nicht seinem Vorurteil entsprach: er war bettelarm, und sah nicht wie jemand aus, der auf Unschuldige schießen würde. Augenzwinkernd, mit Blick auf den Koran meint Abdel-Samad zu seinem Vater, einem Dorfimam alter Schule: siehe, wie dein Sohn seine Seele in Europa verkauft hat, sein bester Freund ist nun ein Jude.

Abdel-Samad ging auch nach Dachau. Kein Araber könne die Mentalität der Juden voll verstehen, ohne diesen Ort des Grauens besucht zu haben. Nein, dies habe sein Leben nicht verändert. Doch begann ein Denkprozess über Gewalt und Gegengewalt. Die vom Autor gesehene, nie dagewesene Brutalität ist umstritten. Im Ersten Weltkrieg brachten Osmanen die Hälfte eines christlichen Volkes auf barbarische Weise um: 1,5 Millionen Armenier. [2] Die Rede über 1.400 Jahre des friedlichen Nebeneinanders von Muslime und Christen erweist sich als höchst zweifelhaft. Und was ist mit Massenmord im Sudan?

Hoffnungsvoll sind Abdel-Samads Worte über Unterschiede zwischen deutschen Türken und Arabern. Erstere hätten weniger Identitätskonflikt, da sie schon zwei Systeme haben. Sie kennen bereits die Säkularisierung aus der Türkei. Der Kulturschock wäre kleiner. Da dieses Buch auch auf Arabisch am Nil erschien, schlägt es nun denkbar kreative Wellen. Wir dürfen von der Produktivität des unruhigen Abdel-Samad sicher noch viel erwarten.


Anmerkungen:

[1] http://www.trafoberlin.de/pdf-dateien/2009_04_19/Wolfgang%20G%20Schwanitz%20Sheik%20And%20Shoah.pdf" [PDF-Dokument]

[2] http://www.trafoberlin.de/pdf-dateien/Schwanitz_neu/Gutmann%20Armenier%20Deutsche%20Orientbank.pdf" [PDF-Dokument]

Rezension über:

Hamed Abdel-Samad: Mein Abschied vom Himmel. Aus dem Leben eines Muslims in Deutschland, Köln: Fackelträger Verlag GmbH 2009, 312 S., ISBN 978-3-7716-4419-2, EUR 19,95

Rezension von:
Wolfgang G. Schwanitz
Browns Mills, NJ
Empfohlene Zitierweise:
Wolfgang G. Schwanitz: Rezension von: Hamed Abdel-Samad: Mein Abschied vom Himmel. Aus dem Leben eines Muslims in Deutschland, Köln: Fackelträger Verlag GmbH 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 1 [15.01.2010], URL: https://www.sehepunkte.de/2010/01/17258.html


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